2.1.1 Begriff der Sozialversicherung
Rz. 5
Der in Abs. 1 verwandte Begriff der Sozialversicherung ist nicht näher definiert (zum Entstehen der Sozialversicherung zur Abwendung "gemeingefährlicher Bestrebungen" und weniger als Schutzgesetz mit dem Ziel der sozialen Vorsorge vgl. Knospe, NZS 2017, 670). Auch Art. 74 Nr. 12 GG enthält keine inhaltliche Bestimmung, sondern setzt diese voraus. Das BVerfG (z. B. Beschluss v. 8.4.1987, 2 BvR 909/82 u. a.) versteht den Begriff "Sozialversicherung" in Art. 74 Nr. 12 GG als weit gefassten "verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff" der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt, wobei auch neue Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem "Sozialversicherung" einbezogen werden können, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken, dem Bild entsprechen, das durch die "klassische" Sozialversicherung geprägt ist. Zur Sozialversicherung gehört jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit. Die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine Notlage gehört nicht zum Wesen der Sozialversicherung. Außer dem sozialen Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten ist die Art und Weise kennzeichnend, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird: Träger der Sozialversicherung sind selbstständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch die auf der Grundlage eines Versicherungsverhältnisses geschuldeten Beiträge der "Beteiligten" aufbringen.
Rz. 6
Der Begriff der Sozialversicherung beinhaltet eine öffentlich-rechtliche, gemeinnützige Zwangsversicherung, die auf dem Grundsatz der Selbstverwaltung aufgebaut und unter staatlicher Aufsicht steht (Wehrhahn, in: KassKomm. SGB I, § 4 Rz. 8, Stand: März 2022; ähnlich Mrozynski, SGB I, 6. Aufl., § 4 Rz. 3b; Lilge, SGB I, 4. Aufl., § 4 Rz. 3). Für die Sozialversicherung ist der Solidaritätsgrundsatz, wie etwa im Rentenversicherungsrecht sogar generationenübergreifend, prägend mit der Folge, dass die Beitragspflicht bei gleichem versicherten Risiko unterschiedlich hoch sein kann und im Regelfall an konkrete oder gesetzlich festgelegte beitragspflichtige Einnahmen anknüpft. Insoweit unterscheidet sich die Sozialversicherung deutlich von den privaten Versicherungen, bei denen das Äquivalenzprinzip, d. h. ein weitgehend ausgewogenes Verhältnis zwischen individueller Beitragszahlung und versichertem Risiko, maßgeblich ist. Das BVerfG hat es für die Pflegeversicherung sogar für zwingend erforderlich gehalten, den "generativen Beitrag" der Erziehung von Kindern als auch künftige Beitragszahler zur Finanzierung der Leistungen bei der Beitragsfestsetzung zu berücksichtigen (BVerfG, Urteil v. 3.4.2001, 1 BvR 1629/94), ohne allerdings den "Wert" der Familienversicherung nach § 25 SGB XI zu berücksichtigen, die im Versicherungsfall die vollen Leistungsansprüche bei Pflegebedürftigkeit oder im Krankheitsfall begründet, ohne dass dafür eigene Beiträge erhoben werden (vgl. § 56 Abs. 1 SGB XI und Komm. dort). Entsprechend der Notwendigkeit der Finanzierung des im jeweiligen Versicherungszweig entstehenden Leistungsbedarfs und dem umfassenden sozialen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, vor allem aber zwischen Versicherten mit niedrigem Einkommen und solchen mit höherem Einkommen, hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Festlegung der zwangsweise in die Sozialversicherung einbezogenen Personenkreise, auch wenn dies maßgeblich der Finanzierung dient (zuletzt BVerfG, Urteil v. 10.6.2009, 1 BvR 706/08 u. a.). Die Verschärfung der Voraussetzungen zur Krankenversicherungspflicht als Rentner (KVdR) durch das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) v. 21.12.1992 (BGBl. I S. 2266) – Berücksichtigung nur von Pflichtversicherungszeiten für die erforderliche Vorversicherungszeit – hat das BVerfG (Urteil v. 15.3.2000, 1 BvL 16/96 u. a.) allerdings wegen der beitragsrechtlichen Folgen als mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt.
Rz. 7
Im Rückschluss aus Abs. 2 ergibt sich, dass auch in Abs. 1 (nur) die klassischen Zweige der Sozialversicherung (Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte) sowie der neue Zweig der Pflegeversicherung gemeint sind, wie es auch in § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB IV zugrunde gelegt ist. Obwohl nach Art. 74 Nr. 12 GG auch die Arbeitsförderung der Sozialversicherung zuzurechnen ist (das SGB IV mit den Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung gilt auch für die Arbeitsförderung), wird sie hier nicht erwähnt, weil sie – wegen des engen sachlichen Zusammenhangs – bereits im § 3 Abs. 2 angesprochen ist (vgl. Komm. dort).
2.1.2 Zugang zur Sozialversicherung
Rz. 8
Das in Abs. 1 deklarierte Recht auf Zugang zur Sozialversicherung für jedermann suggeriert eine Rechtsposition, von der auch Abstand genommen werden könnte. Ein solcher j...