Rz. 11
Die gesetzlichen Definitionen des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthaltes haben eine über die Anwendung des § 30 hinausgehende Bedeutung, sie gelten für alle Zweige des Sozialrechts. Soweit daher materiellrechtliche Regelungen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraussetzen oder daran anknüpfen, ist dieser nach Abs. 3 zu bestimmen. Dies gilt insbesondere für die Bestimmung des örtlich zuständigen Leistungsträgers im Inland (vgl. z. B. § 86 SGB VIII, § 98 SGB XII, § 130 SGB VII, § 36 SGB II).
Rz. 12
Die Definitionen sollen sicherstellen, dass von den Vorschriften des SGB nur, aber auch alle, Personen erfasst werden, die ihren Lebensmittelpunkt in dessen Geltungsbereich haben. Soweit ein Wohnsitz im Inland besteht, geht es bei der Regelung darum, die Weitergeltung der Vorschriften bei tatsächlichem vorübergehenden Nichtaufenthalt am Wohnsitz oder im Inland sicherzustellen, wogegen es beim gewöhnlichen Aufenthalt darum geht, die Anwendung der Vorschriften bei nur vorübergehendem Inlandsaufenthalt auszuschließen. Die Begriffe stehen in einem Stufenverhältnis: Wer im Inland einen Wohnsitz hat, hält sich dort zugleich regelmäßig auf. Nur wenn es an einem Wohnsitz fehlt, kommt es auf den gewöhnlichen Aufenthalt an (BSG, Urteil v. 12.4.2017, B 13 R 25/14 R).
2.3.1 Wohnsitz (Abs. 3 Satz 1)
Rz. 13
Mit der Definition des Wohnsitzes wird auf das Steuerrecht (§ 8 AO) zurückgegriffen, wonach einen Wohnsitz jemand dort hat, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Die für das Steuerrecht aus § 9 AO für den gewöhnlichen Aufenthalt abgeleitete Zeitmoment auch für die Beibehaltung der Wohnung von 6 Monaten ist dabei aber nicht in die Vorschrift übernommen worden. Ob die Voraussetzungen vorliegen, ist aber im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise zu beurteilen (BSG, Urteil v. 23.2.1988, 10 RKg 17/87). Dabei ist – anders als im Zivilrecht – nicht entscheidend auf den rechtsgeschäftlichen Willen zur Begründung eines Wohnsitzes nach der Vorschrift des § 7 BGB abzustellen. Daher können auch Minderjährige einen eigenen Wohnsitz haben, wobei jedoch für die Frage der Beibehaltung des Wohnsitzes die Verfügungsbefugnis über die Wohnung zu prüfen ist. Auch die (polizei-/ordnungsrechtlichen) Meldevorschriften sind für den Wohnsitzbegriff nicht ausschlaggebend (so schon BSG, Urteil v. 17.12.1981, 10 RKg 12/81). Ein nur formaler Wohnsitz ist für den Wohnsitzbegriff des SGB nicht ausreichend.
Rz. 14
Maßgebend für das Bestehen eines Wohnsitzes sind die objektiv zu bestimmenden tatsächlichen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, aus denen sich ein Lebensmittelpunkt an einem bestimmten Wohnsitz ableiten lässt. Dieses setzt zunächst einmal das Vorhandensein einer Wohnung voraus. Hierbei muss es sich um zum Wohnen geeignete und zugelassene Räumlichkeiten handeln, die für die ständige Nutzung zur Verfügung stehen. Auf die Angemessenheit und Wohnqualität kommt es nicht an. Es müssen jedoch Räumlichkeiten vorhanden sein, die die Führung eines selbständigen Haushalts ermöglichen, in erster Linie eine Wasserversorgung und -entsorgung, eine Kochgelegenheit sowie eine Toilette (so Pitz, in: jurisPK-SGB I, § 30 Rz. 32, Stand: 13.8.2018; Spellbrink, in: KassKomm. SGB I, § 30 Rz. 10, Stand: 1.7.2020).
Rz. 15
Diese Wohnung muss darüber hinaus zur gegenwärtigen und künftigen Nutzung zur Verfügung stehen und genutzt werden können. Auch hierbei kommt es auf die Umstände insbesondere der tatsächlichen Verfügungsbefugnis über den Wohnraum an, nicht entscheidend ist hingegen die rechtliche Verfügungsbefugnis i. S. eines abstrakten Rechts auf den Besitz der Wohnung. Insoweit ist nicht allein entscheidend, dass die Wohnung gegenwärtig und in Zukunft wieder genutzt werden könnte, weil sonst ein Scheinwohnsitz (formaler Wohnsitz) begründet und aufrechterhalten werden könnte. Entscheidend ist, dass das Vorhandensein und die Beibehaltung der Verfügungs- oder Nutzungsbefugnis wegen der tatsächlichen regelmäßigen Nutzung als Wohnung und als Lebensmittelpunkt erfolgt, insoweit müssen ein reales Verhalten und ein realisierbarer Wille vorhanden sein, an diesem bestimmten Ort zu wohnen (BSG, Urteil v. 10.12.1985, 10 RKg 14/85). Obwohl es auf den Willen für die Wohnsitzbegründung und die Beibehaltung der Wohnung grundsätzlich nicht ankommt, sind hier jedoch subjektive Gesichtspunkte für die Absicht der auch noch künftigen Nutzung von Bedeutung. Art und Ausgestaltung der Wohnung können dabei als Indizien für die Absicht der auch künftigen regelmäßigen Benutzung herangezogen werden. Auch Räumlichkeiten, die an sich nur zur vorübergehenden Nutzung gedacht sind (Hotel- oder Pensionszimmer), können als Wohnung beibehalten werden, wenn die konkreten Räume zur persönlichen Nutzung freigehalten werden.
Rz. 16
Das Vorhandensein mehrerer Wohnsitze ist nicht ausgeschlossen, weil das Vorhandensein von 2 Wohnungen und deren tatsächlich wechselnde Nutzung möglich sind, solange beide Wohnungen zur Ben...