Rz. 19
Auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland kommt es an, wenn kein Wohnsitz vorhanden ist oder ein solcher sich nicht feststellen lässt. Der Begriff des Wohnsitzes schließt den des gewöhnlichen Aufenthaltes als weitergehenden Begriff ein. Der gewöhnliche Aufenthalt liegt dort, wo sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (BSG, Urteil v. 16.6.2015, B 13 R 36/13 R; Pitz, in: jurisPK- SGB I, § 30 Rz. 35, Stand: 13.8.2018). Er fordert zwar keine ständige, wohl aber eine regelmäßige Anwesenheit. Der tatsächliche Aufenthalt muss durch objektive Merkmale den Schluss auf ein auf längere Sicht beabsichtigtes Verweilen und die Rückkehr an diesen Ort oder in ein Gebiet zulassen. Prognostisch muss festgestellt werden können, dass der Aufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist (zu Besuchs- oder Urlaubszwecken, zur Krankenhausbehandlung oder als Durchgangsstation). Allein die Behauptung oder die subjektive Absicht des längerfristigen Aufenthalts sind nicht ausreichend (BSG, Urteil v. 15.3.1995, 5 RJ 28/94).
Rz. 20
Bei Ausländern und insbesondere Asylbewerbern, deren Zugang und weiterer Aufenthalt im Inland rechtlich von einer Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung des Aufenthalts abhängig ist, hat das BSG bei der Beurteilung des nur vorübergehenden Aufenthaltes die Frage des ausländerrechtlichen Status im Rahmen der Gesamtbeurteilung für entscheidend gehalten (sog. "Einfärbungslehre", BSG, Urteil v. 3.4.2001, B 4 RA 90/00 R). Solange der Aufenthalt des Ausländers materiell-rechtlich nicht zumindest so zukunftsoffen gesichert sei, dass er einen dauerhaften Aufenthalt ermögliche, könne ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht angenommen werden. Kritisiert daran wurde, dass damit ein vom Gesetzgeber nicht geregeltes Tatbestandsmerkmal in das Gesetz hineingelesen werde (vgl. Spellbrink, in: KassKomm, SGB I, § 30 Rz. 26, Stand: 1.7.2020). Der 12. Senat des BSG ist der Einfärbungslehre auch nicht gefolgt (BSG, Urteil v. 30.4.1997, 12 RK 30/96), auch der 4. Senat ist inzwischen davon wieder abgerückt (BSG, Urteil v. 30.1.2013, B 4 AS 54/12 R). Ein gewöhnlicher Aufenthalt wird also dann nicht begründet, wenn eine Person nur vorübergehend im Inland verweilt, weil sie kraft Gesetzes zur Ausreise verpflichtet ist und Ausreise- oder Abschiebehindernisse nicht bestehen.
Rz. 21
Als Folge der uneinheitlichen Rechtsprechung zu Asylbewerbern wurde für einige Leistungsansprüche ein bestimmter Aufenthaltsstatus eingeführt (z. B. § 1 Abs. 3 BKGG, § 27 Abs. 2 SGB V), der vorrangig (§ 37) vor dem allgemeinen Grundsatz des § 30 Abs. 1 gilt.
Rz. 22
Für den gewöhnlichen Aufenthalt ist nicht erforderlich, dass am Aufenthaltsort eine Wohnung zur Verfügung steht. Daher reicht der Aufenthalt in einer fremden Wohnung als Gast, in wechselnden Unterkünften oder fahrbaren Unterkünften, selbst wenn diese nicht zum Wohnen zugelassen sind, aus. Ausreichend ist ebenfalls der (nicht freiwillige) Aufenthalt von Strafgefangenen oder der Aufenthalt in einem Frauenhaus. Ein Minderjähriger hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt i. d. R. dort, wo er vom sorgeberechtigten Elternteil seine Erziehung erhält.
Rz. 23
Da es bei dem gewöhnlichen Aufenthalt gerade um die Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse des nicht nur vorübergehenden Verweilens geht und um die Abgrenzung bei tatsächlich wechselnden Aufenthalten, wird man einen mehrfachen gewöhnlichen Aufenthalt nur unter strengen Anforderungen, insbesondere einer gleichmäßigen Verteilung der Schwerpunkte der Lebensverhältnisse, annehmen können. Im Inland führt dies aber nur zu einem Wahlrecht, welcher Sozialleistungsträger in Anspruch genommen wird, nicht zu einer Vervielfältigung der Ansprüche.