0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift wurde durch das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher (VerbaKJUVBG) v. 28.10.2015 (BGBl. I S. 1802) mit Wirkung zum 1.11.2015 neu in das SGB VIII eingefügt.
1 Allgemeines
Rz. 2
§ 42a Abs. 1 Satz 2 regelt – ebenfalls erst durch das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher (VerbaKJUVBG) v. 28.10.2015 (BGBl. I S. 1802) mit Wirkung zum 1.11.2015 in das SGB VIII eingefügt – seitdem freiheitsentziehende Maßnahmen für die vorläufige Inobhutnahme und beinhaltet die materiellen Regeln einer Grundrechtseinschränkung; der Gesetzgeber erfüllt damit die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG, wonach in ein Freiheitsrecht des Bürgers i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf.
Rz. 3
Zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Zitiergebots aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Einführung einer Schlussvorschrift i. S. d. § 106 erforderlich gewesen (BT-Drs. 18/6392 S. 21).
Rz. 4
Da § 106 erst durch das VerbaKJUVBG v. 28.10.2015 (BGBl. I S. 1802) mit Wirkung zum 1.11.2015 in das SGB VIII eingefügt wurde, existieren keine Vorgängervorschriften. Allerdings sah bereits Art. 20 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG) v. 26.6.1990 (BGBl. I S. 1163) vor, dass das Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (neben dem Grundrecht der Freizügigkeit nach Art. 11 GG und dem Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG) nach Maßgabe des Gesetzes eingeschränkt wird. Mit dem KJHG wurde auch das SGB VIII in Kraft gesetzt, sodass auch § 42 Abs. 3 Satz 2 a. F. erfasst war.
2 Rechtspraxis
Rz. 5
§ 106 stellt klar, dass durch § 42 Abs. 5 und § 42a Abs. 1 Satz 2 das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG) eingeschränkt.
Rz. 6
Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6392 S. 21) stellt darauf ab, dass nach § 42 Abs. 5 freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme zulässig sind, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Befugnis zur Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen schränkt das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG) ein.
Rz. 7
§ 42a Abs. 1 Satz 2 regelt die entsprechende Geltung dieser Befugnisse auch für die vorläufige Inobhutnahme und beinhaltet demnach ebenfalls eine Grundrechtseinschränkung. Durch die Inbezugnahme von § 42 Abs. 5 und § 42a Abs. 1 Satz 2 sind daher beide Formen der Inobhutnahme erfasst; also sowohl die reguläre als auch die vorläufige Inobhutnahme.
Rz. 8
Inobhutnahme ist dabei die (vorläufige) Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer Notsituation durch das Jugendamt. Die Inobhutnahme stellt damit i. d. R. keine freiheitsentziehende Maßnahme im engeren Sinn dar, die darauf ausgerichtet sind, das Recht des Betroffenen dahingehend einzuschränken, sich frei zu bewegen; vgl. Art. 104 Abs. 2 GG. Die Inobhutnahme ist gerade nicht darauf gerichtet, die Fortbewegungsfreiheit des Kindes oder des Jugendlichen aufzuheben. Lediglich das Aufenthaltsbestimmungsrecht wird entzogen. Die Inobhutnahme stellt daher regelmäßig nur eine bloße Freiheitsbeschränkung dar, vgl. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Deshalb sieht § 42 Abs. 5 in den Fällen, in denen eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden ist, weitergehend freiheitsentziehende Maßnahmen vor. Damit erfasst sind Gefahrenlage der Selbstgefährdung wie Selbstverletzung, Selbstverstümmlung oder beabsichtigter Freitod (vgl. insoweit die Komm. zu § 42 Abs. 5).
Rz. 9
Der Entzug der Freiheit i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG steht unter dem Gesetzesvorbehalt nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG. §§ 42 Abs. 5, 42a Abs. 1 Satz 3 stellen in Erfüllung dieser verfassungsrechtlichen Anforderung die erforderlichen materiell-rechtlichen Eingriffsermächtigungen für die Freiheitsentziehungen dar
Rz. 10
Zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Zitiergebots aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist darüber hinaus die Einführung einer entsprechenden Schlussvorschrift erforderlich gewesen, die in § 106 zu sehen ist. § 106 erfüllt daher die verfassungsrechtlichen Vorgaben in förmlicher Hinsicht, da Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG anordnet, dass ein Gesetz, welches ein Grundrecht einschränkt, dieses Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen muss.
3 Literatur
Rz. 11
Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 106 Einschränkung eines Grundrechts.