Rz. 8
§ 36a Abs. 2 Satz 1 regelt, dass abweichend von Abs. 1 der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen zulassen soll und trifft damit Regelungen für die sog. gesteuerte Selbstbeschaffung (zum Begriff vgl. Kunkel, Gesteuerte Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 2 SGB VIII, ZKJ 2007 S. 241). Diese stellt eine Ausnahme vom Entscheidungsprimat des Jugendamts dar und verpflichtet den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen auch ohne Erfüllung der Voraussetzungen des Abs. 1 zuzulassen. Die Vorschrift ist zweistufig aufgebaut. Auf einer ersten Endstufe entscheidet der Träger der öffentlichen Jugendhilfe i. S. v. § 36a Abs. 2 Satz 1 über die Zulassung, auf einer zweiten Stufe schließt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe i. S. v. § 36a Abs. 2 Satz 2 entsprechende Vereinbarungen mit den Leistungserbringern. Von der Rechtsfolge her hat der Gesetzgeber mit der Einführung einer Sollvorschrift auf der ersten Stufe praktisch die Pflicht zur Zulassung für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe geschaffen. Hiervon ist nur bei Vorliegen von atypischen Umständen im Einzelfall Abstand zu nehmen; eine schlechte Haushaltslage stellt dabei keinen atypischen, sondern einen typischen Umstand dar (Kunkel, Gesteuerte Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 2 SGB VIII, ZKJ 2007 S. 241). Abs. 2 Satz 1 regelt die zuzulassenden Hilfen dabei in Form von einem Regelbeispiel und nennt ausdrücklich die Erziehungsberatung. Durch die Formulierung "insbesondere" stellt der Gesetzgeber klar, dass es sich um einen offenen Leistungskatalog handelt. Zu den zuzulassenden Hilfeformen in ambulanter Form zählen daher insbesondere weiter alle Leistungen, die in Beratungsstellen oder ärztlichen Praxen erbracht werden.
Rz. 9
In der Literatur wird angesichts der SARS-CoV-2-Pandemie die Auffassung vertreten, dass die in § 36a Abs. 2 vorgesehene Möglichkeit zur niederschwelligen Umsetzung von Hilfen zur Erziehung, also ohne Hilfeplanung nach § 36, großzügig zu nutzen ist (Fegert/Clemens/Berthold/Kölch, JAmt 2020 S. 178); dem ist zuzustimmen. § 8 Abs. 3 sieht einen unabhängigen, bedingungslosen Beratungsanspruch von Kindern und Jugendlichen vor. Der in § 8 Abs. 3 Satz 3 HS 2 enthaltene ergänzende Verweis auf die Möglichkeit und Pflicht zur niedrigschwelligen Beratung nach § 36a Abs. 2 ist ganz allgemein eine zusätzliche Aufforderung an die Praxis, die Hürden für die Inanspruchnahme von Beratung durch Kinder und Jugendliche abzubauen (zutreffend Meysen, FamRZ 2021 S. 401).
Rz. 10
Hauptanwendungsfall der niedrigschwelligen und unmittelbar zuzulassenden Hilfen ist die gesetzlich genannte Hilfe zur Erziehung durch Erziehungsberatung i.S.d. §§ 27, 28; die Bezugsvorschrift der Erziehungsberatung (§ 28) hat der Gesetzgeber durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) in Abs. 2 Satz 1 zum 10.6.2021 klarstellend ausdrücklich benannt. Erziehungsberatung ist dabei nach § 28 insbesondere die Unterstützung bei Erziehungsfragen, bei persönlichen oder familienbezogenen Problemen. Die Erziehungsberatung gibt insbesondere eine erste Orientierung in Krisensituationen. Die Hilfe ist dabei regelmäßig eine kostenlose Hilfe für Kinder, Jugendliche und deren Eltern, die von den Erziehungsberatungsstellen geleistet wird. Dabei wird mit dem Beispiel der Erziehungsberatung in Satz 1 ein Hinweis auf Intensität und immanente Niedrigschwelligkeit derjenigen ambulanten Hilfearten gegeben, deren unmittelbare Inanspruchnahme grundsätzlich ermöglicht werden soll (BR-Drs. 5/21 S. 83 = BT-Drs. 19/26107 S. 86).
Rz. 11
Dabei ist die Erziehungsberatung nur das (Haupt-)Regelbeispiel, wie sich aus dem Begriff "insbesondere" ergibt, sodass auch andere Hilfen denkbar sind. Neben die Erziehungsberatung treten daher auch die Hilfearten soziale Gruppenarbeit i. S. v. § 29, Erziehung und Betreuungshelfer i. S. v. § 30, die sozialpädagogische Familienhilfe i. S. v. § 31 sowie die ambulanten Hilfen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs. 2 Nr. 1.
Rz. 12
Hingegen können alle Hilfen niedrigschwellig nicht unmittelbar zugelassen werden, wenn für sie ein Hilfeplan nach § 36 Abs. 2 aufgestellt werden muss; das ist immer dann der Fall, wenn die Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist. Hierbei gilt als längere Zeit ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten (vgl. hierzu insgesamt: Kunkel, Gesteuerte Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 2 SGB VIII, ZKJ 2007 S. 241, vgl. auch bei § 36 Rz. 14, 15). Namentlich die Erstellung des Hilfeplans ist damit grundsätzlich keine Tatbestandsvoraussetzung. Der Gesetzgeber hat somit die Möglichkeit eingeräumt, ambulante Hilfen unmittelbar in Anspruch nehmen zu können (zutreffend Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Zweite Beschlussempfehlung v. 1.6.2005 zur BT-Drs. 15/5616). § 36a Abs. 2 Satz 1 stellt damit auch eine Sonderreglung zu Abs. 3 dar, der die allgemeine Regelung über die Selbs...