Rz. 10
Satz 1 verpflichtet den Jugendhilfeträger bei der Aufstellung und Überprüfung des Hilfeplans im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 2 bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie prozesshaft auch die Perspektive der Hilfe zu klären.
Rz. 11
Bei den Hilfen außerhalb der Familie handelt es sich um solche nach §§ 33, 34, 35 und 35a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 und bei Volljährigen i. V. m. § 41.
Rz. 12
Satz 1 hat damit insbesondere klarstellende Funktion. Bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie ist – neben den für alle Hilfen relevanten Anforderungen nach § 36 – die Perspektivklärung nunmehr neuer und eigenständiger zentraler Gegenstand der Hilfeplanung (BR-Drs. 5/21, S. 88 = BT-Drs. 19/26107, S. 91). Die Frage nach der Perspektive der Hilfe als zeitlich befristete Erziehungshilfe oder auf Dauer angelegte Lebensform wird damit systematisch in der Hilfeplanung verankert. Aufgabe und Inhalt der Perspektivklärung ist es zu klären, ob innerhalb eines für die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraums eine Verbesserung der Entwicklungs-, Teilhabe- und Erziehungsbedingungen eintreten kann. Die Prognose ist bereits vor der Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie zu treffen (Ivanits, NZFam 2022 S. 813).
Rz. 13
Die Perspektivklärung ist dabei von prozesshaftem Charakter (zur prozesshaften Thematisierung und Dokumentation der Perspektivklärung in den Hilfeplangesprächen vgl. auch: Beckmann/Lohse, JAmt 2021 S. 178; den prozesshaften Charakter betont auch: Cirullies, FamRB 2021 S. 389); bei dem schrittweise dem Bedarf des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Einschätzungen bzw. Prognosen zusammen mit den Beteiligten entwickelt und gemeinsame wie unterschiedliche Sichtweisen im Hilfeplan festgehalten werden, um Transparenz herzustellen und ständige Unklarheit und Vorläufigkeit für Kinder, Jugendliche, Eltern und Pflegeeltern zu vermeiden (BR-Drs. 5/21 S. 88, 89 = BT-Drs. 19/26107 S. 91 unter Bezugnahme auf die fachlichen Positionen des Dialogforums Pflegekinderhilfe; zu den relevanten Faktoren im Rahmen der Perspektivklärung vgl. auch Ivanits, NZFam 2022 S. 813).
Rz. 14
In welcher Weise Kontinuitätssicherung für ein Kind oder einen Jugendlichen umgesetzt werden kann, muss in jedem Einzelfall sorgfältig und wiederholt abgewogen werden. Entwicklungsmöglichkeiten von Eltern und Rückkehrwünsche von Kindern und Jugendlichen müssen gesehen und berücksichtigt werden. Kinder müssen grundsätzlich das Recht haben, in ihre Familie zurückzukehren, sofern dies unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls möglich ist. Gleichzeitig müssen für Kinder und Jugendliche, die schon lange in einer Pflegefamilie leben und dort ihr neues Zuhause gefunden haben, bessere rechtliche Möglichkeiten des Schutzes ihrer hier gewachsenen Bindungen gefunden werden (BR-Drs. 5/21 S. 36, 37 = BT-Drs. 19/26107 S. 45).
Rz. 15
Aus dem prozesshaften Charakter fließt auch eine Anpassungspflicht.
Rz. 16
Eine solche Anpassungspflicht besteht insbesondere in den besonderen Phasen eines Hilfeprozesses, die zwangsläufig mit Veränderungen verbunden sind: dies ist der Fall bei Einleitung von Beendigungsprozesse – also bspw. beim Wechsel der Perspektive von der Rückkehroption zum Adoptionsvorrang – oder das Erreichen der Volljährigkeit (BR-Drs. 5/21 S. 37 = BT-Drs. 19/26107 S. 45). Hier ist das Herstellen eines möglichst hohen Maßes an Stabilität und emotionaler Sicherheit für den jungen Menschen bzw. die Vermeidung von Brüchen und Unsicherheiten hinsichtlich seiner Lebenssituation und seinen Beziehungen besonders sensibel.
Rz. 17
Ergibt sich aus der gemeinsam entwickelten Perspektivklärung, dass der junge Mensch die Kinder- und Jugendhilfe verlässt und die Zuständigkeit für seine weitere Unterstützung auf einen anderen Sozialleistungsträger übergeht, muss rechtzeitig vor dem Wechsel der Zuständigkeit der betreffende Sozialleistungsträger in die Planung des Übergangs eingebunden werden, um Kontinuität und Bedarfsgerechtigkeit der Leistungsgewährung sicherzustellen. Hierzu ist es erforderlich, mit dem bzw. den Sozialleistungsträger/n verbindlich abzustimmen, wann und wie der Übergang erfolgen soll und an welche Zielsetzung der Leistungsgewährung nach dem Übergang anzuknüpfen ist (BR-Drs. 5/21 S. 37 = BT-Drs. 19/26107 S. 45).
Rz. 18
Der zeitliche Rahmen der Ermittlung der Perspektivklärung beschränkt sich nicht auf die Dauer der zu gewährenden Hilfe, sondern greift bereits zu Beginn des Hilfeprozesses. Daher muss bereits im Rahmen des Verfahrens zur Aufstellung des ersten Hilfeplans eine vorläufige Perspektivklärung vorgenommen werden, auch wenn die Situation unklar und die Positionen der Beteiligten strittig sind (BR-Drs. 5/21 S. 88 = BT-Drs. 19/26107 S. 91).