Rz. 9
Eine ärztliche Untersuchung ist in den verbleibenden Zweifelsfällen durchzuführen; sie soll also nicht die Regel darstellen. Sie soll dann erfolgen, wenn weder die Minderjährigkeit noch die Volljährigkeit aufgrund der qualifizierten Inaugenscheinnahme und der sonstigen Beweismittel feststeht (VG München, Beschluss v. 3.11.2022, M 18 E 22.5047). Sie soll gerade auch dann durchgeführt werden, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig. Dies folgt auch aus der entsprechend anzuwendenden Vorschrift des Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU (Bay. VGH, Beschluss v. 5.4.2017, 12 BV 17.185, Rz. 33). Ob ein Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle. Dies schließt eine wie auch immer geartete Einschätzungsprärogative des Jugendamts von vornherein aus (Bay. VGH, a. a. O.). Die Untersuchung kann auf Antrag oder auch von Amts wegen veranlasst werden. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6392 S. 20) ist die ärztliche Untersuchung mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen. Dies schließt z. B. Genitaluntersuchungen aus.
Rz. 10
Gemäß Abs. 2 Satz 2 ist die betroffene Person zuvor umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen des Untersuchungsergebnisses aufzuklären. Die Einwilligung ist inhaltlich zu dokumentieren und von einem Mitarbeiter des Jugendamtes, dem Betroffenen und vom Dolmetscher zu unterschreiben. Solange für einen unbegleiteten Minderjährigen kein (Amts-)Vormund bestellt worden ist, kann das Jugendamt in Ausübung des ihm zustehenden Notvertretungsrechts (vgl. die Komm. zu § 42a Rz. 18) als Vertreter des Minderjährigen grundsätzlich in eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung einwilligen. Eine solche Einwilligung ist jedoch nur dann wirksam, wenn innerhalb des Jugendamtes eine organisatorische und personelle Trennung besteht, um eine Interessenkollision zu verhindern (OVG Bremen, Urteil v. 4.6.2018, 1 B 53/18, Rz. 33). Die Untersuchung darf nur nach Einwilligung der betroffenen Person und ihres Vertreters erfolgen (Abs. 2 Satz 3). In den Fällen von Untersuchungen von Amts wegen ist die betroffene Person gemäß Abs. 2 Satz 3 zusätzlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären. Ein ohne vorherige Einwilligung eingeholtes medizinisches Gutachten unterliegt nach der Rechtsprechung des OVG Bremen (Urteil v. 4.6.2018, 1 B 53/18) einem Beweisverwertungsverbot, da es an einem besonders schweren Mangel leidet.
Rz. 10a
Die Vorschriften des SGB I zu den Mitwirkungspflichten im Verfahren werden für entsprechend anwendbar erklärt (§§ 60, 62 und 65 bis 67 SGB I). Sie sind deshalb nicht unmittelbar anwendbar, weil die Inobhutnahme keine Sozialleistung darstellt. Weigert sich der Betroffene, sich der Untersuchung zu unterziehen, kann das Jugendamt eine Aufgabenerfüllung, die an die Minderjährigkeit anknüpft, entsprechend § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I verweigern oder einstellen und Leistungen versagen oder entziehen. Das Jugendamt hat hierüber eine Ermessensentscheidung zu treffen. Eine auf fehlende Mitwirkung gestützte Verweigerung der Inobhutnahme kommt aber nur dann in Betracht, wenn das Jugendamt den Betroffenen schriftlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufgeklärt hat (OVG Bremen, Urteil v. 4.6.2018, 1 B 53/18, Rz. 31). Die Weigerung des Betroffenen allein führt also nicht reflexhaft zur Annahme der Volljährigkeit und dem Verlust aller korrespondierenden Schutzrechte Minderjähriger. Wenn Zweifel an der Volljährigkeit weiterhin bestehen, ist von Minderjährigkeit auszugehen. Allerdings können aus der Begründung zur Verweigerung der ärztlichen Untersuchung Schlüsse in Bezug auf die Volljährigkeit gezogen werden.
Rz. 10b
Eine zuverlässige Altersdiagnostik erfordert verschiedene körperliche Untersuchungen (Erfassung anthropometrischer Maße, Feststellung sexueller Reifezeichen sowie möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen), eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Gebissbefundes sowie den Einsatz bildgebender Verfahren im Rahmen radiologischer Untersuchungen. Das Ergebnis dieser Einzeluntersuchungen ist sodann zusammenführend zu würdigen (OLG Karlsruhe, Beschluss v. 26.8.2015, 18 UF 92/15 zur Altersfeststellung im kindschaftsrechtlichen Verfahren). Bei der forensischen Altersdiagnostik mittels radiologischer Bildgebung handelt es sich um eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung. Die von der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (AGFAD) aufgestellten Aktualisierten Empfehlungen für Altersschätzungen bei Lebenden im Strafverfahren (https://www.dgrm.de/fileadmin/PDF/AG_FAD/empfe...