Die geltende Regelung zu Kinderehen ist verfassungswidrig
Im Jahr 2016 lebten in der Bundesrepublik ca. 1.500 verheiratete Minderjährige. Der Bundestag hat im Jahr 2017 das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen verabschiedet.
Kinderehenbekämpfungsgesetz von Anfang an unter Kritik
Das Gesetz stand von Anfang an unter starker Kritik. Ist eine Ehe automatisch unwirksam, so entfallen für die Betroffenen auch sämtliche familienrechtlichen Ansprüche. Der vom Gesetzgeber bezweckte Schutz Minderjähriger kann dann in das Gegenteil umschlagen – so die Kritiker.
Eheschließung mit einem 14-jährigen Mädchen
Anlass für die aktuelle Entscheidung des BVerfG ist eine Vorlage durch den Bundesgerichtshof (BGH). Gegenstand des vor dem BGH geführten Verfahrens war die Klage eines Mannes. Dieser hatte im Jahr 2015 als 21-jähriger mit einem 14-jährigen Mädchen vor einem Scharia-Gericht in Syrien die Ehe geschlossen. Anschließend flüchtete er mit seiner Ehefrau nach Deutschland. Dort wurde er aufgrund der Gesetzeslage von seiner Ehefrau getrennt. Unter der Obhut des Jugendamtes wurde die Frau in eine Jugendhilfeeinrichtung eingewiesen.
Vorlageverfahren zu Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGGVG
Gegen diese Trennung klagte der Mann bis zum BGH. Der BGH hielt die in der maßgeblichen Bestimmung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB verfügte Nichtigkeit von Ehen, in denen einer der Partner bei Eheschließung noch keine 16 Jahre alt war, für zu pauschal. Da der Gesetzgeber keinerlei Schutz für die von der gesetzlichen Bestimmung betroffenen Minderjährigen vorsehe, sei die Vorschrift verfassungswidrig. Art. 6 GG sehe einen besonderen Schutz für Ehe und Familie vor. Mit der pauschalen Nichtigkeitsfolge ohne jegliche Schutzvorschrift für den/die minderjährigen Ehepartner:in und ohne jegliche Möglichkeit der Einzelfallprüfung entspreche die Vorschrift nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Pauschale Eheunwirksamkeit bis zu einem Mindestalter ist zulässig
In seiner jetzigen Entscheidung hat das BVerfG sich dieser Ansicht des BGH in einigen, aber nicht in allen Punkten angeschlossen. Nach Auffassung des BVerfG hat der Gesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit, Ehen, die mit unter 16-jährigen geschlossen werden, pauschal für unwirksam zu erklären. Der vom Gesetzgeber angestrebte Minderjährigenschutz sowie die erstrebte Rechtsklarheit über das Mindestalter bei Eingehung einer Ehe, seien legitime gesetzgeberische Ziele. Entwicklungspsychologisch könne es als gesichert gelten, dass unter 16-jährige entwicklungsbedingt noch nicht in der Lage seien, eigenverantwortlich über eine Eheschließung zu entscheiden. Deshalb müsse der Gesetzgeber in diesem Punkt auch keine individuelle Einzelfallprüfung vorsehen.
Zurückdrängung der Kinderehe ist Ziel internationaler Organisationen
Die grundsätzliche Nichtigkeit von Kinderehen entspricht nach Auffassung des BVerfG auch den Beschlüssen des Nachhaltigkeitsgipfels der Vereinten Nationen vom September 2015, die unter anderem die weltweite Überwindung der Praxis von Kinderehen zum Ziel haben. Dieses Ziel verfolge auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4.10.2017, die die Beendigung der erheblichen Beeinträchtigungen der Rechte der Kinder, insbesondere der meistens betroffenen Mädchen, bei Kinderehen anstrebe.
Folgeregelungen zum Schutz der Betroffenen fehlen
Die in Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB getroffene Regelung ist nach Auffassung des BVerfG jedoch nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Der durch die Regelung bewirkte Eingriff in die Eheschließungsfreiheit verstoße wegen des Fehlens von Regelungen über die Folgen der Unwirksamkeit der Ehe gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine solche Regelung müsse verfassungsrechtlich den sozialen Schutz des/der minderjährigen Partner:in gewährleisten. Nach der jetzigen Gesetzeslage seien unter 16-jährige Ehepartner:innen in bestimmten Konstellationen ungeschützter als ältere Ehepartner:innen.
Fortführung der Kinderehe nach Volljährigkeit muss möglich sein
Das BVerfG bemängelte noch eine weitere Lücke in der gesetzlichen Regelung. Den Ehepartnern:innen einer ursprünglichen Kinderehe, die bereits im Ausland als Eheleute zusammengelebt haben und nach Eintritt der Volljährigkeit in Deutschland an ihrer Ehe festhalten wollen, müsse eine Fortführung der ehelichen Verbindung möglich sein. Dies sei nach der jetzigen gesetzlichen Regelung nicht möglich. Das Fehlen dieser Option verstoße gegen die grundsätzlich gemäß Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Freiheit, eine Ehe mit einem Partner der Wahl zu führen als Folge einer autonom getroffenen individuellen Entscheidung.
Gesetzgeber muss bis zum 30.6.2024 nachbessern
Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG dem Gesetzgeber eine Frist bis Ende Juni 2024 gesetzt, das Verbot der Kinderehe entsprechend den verfassungsmäßigen Vorgaben neu zu regeln. Bis dahin bleibt das pauschale Verbot der Kinderehe in Kraft. Das BVerfG lehnte eine sofortige Nichtigkeitserklärung der Bestimmung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGGVG mit der Begründung ab, eine Nichtigkeitserklärung der Regelung führe zu einem rechtlich ungeklärten Zustand, der noch verfassungsferner wäre als die jetzige Regelung.
BVerfG setzt eigenes, normvertretendes Übergangsrecht
Die Weitergeltung muss nach Auffassung des BVerfG in der Übergangsfrist flankiert werden durch ein vom Verfassungsgericht geschaffenes Übergangsrecht, um die aktuell verfassungswidrige Lage abzuschwächen. Deshalb traf das BVerfG folgende Bestimmungen:
- Auf die von der der Nichtigkeit betroffenen Kinderehen ist die für den Fall der Aufhebung einer Ehe maßgebliche Vorschrift des § 1318 BGB anzuwenden.
- Damit finden auf Kinderehen mittelbar wesentliche Vorschriften für die Rechtsfolgen einer Scheidung Anwendung, soweit diese durch § 1318 BGB für anwendbar erklärt werden. Dabei handelt es sich insbesondere um gegenseitige Unterhaltsansprüche.
- Soweit die danach maßgeblichen Vorschriften auf die Dauer der Ehe abstellen, tritt in den Fällen einer nicht nur vorübergehenden Trennung der von Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB erfassten Eheleute die Dauer des Zusammenlebens.
- Während der Dauer des Zusammenlebens gelten übergangsweise die Vorschriften der §§ 1360,1360a BGB für Unterhaltsansprüche der Betroffenen entsprechend.
(BVerfG, Beschluss v. 1.2.2023, 1 BvL 7/18)
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