0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
§ 88a wurde durch Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher v. 28.10.2015 (BGBl. I S. 1802) mit Wirkung zum 1.11.2015 als 4. Unterabschnitt neu in das SGB VIII aufgenommen und fügt den örtlichen Zuständigkeitsregelungen eine lex specialis für alle Aufgaben der Jugendhilfe zu, die unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche betreffen.
1 Allgemeines
Rz. 2
Regelungsinhalt der Sonderzuständigkeit des § 88a ist die örtliche Zuständigkeit für vorläufige Maßnahmen, Leistungen und die Amtsvormundschaft für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche. Die Vorschrift findet also bei allen den Personenkreis der unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendlichen betreffenden Jugendhilfemaßnahmen (Leistungen und andere Aufgaben der Jugendhilfe i. S. d. § 2) Anwendung und knüpft die örtliche Zuständigkeit an den tatsächlichen Aufenthalt des unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der vorläufigen Maßnahme bzw. einer Leistung an (zum Begriff "vor Beginn der Maßnahme" vgl. auch die Komm. zu § 86 Rz. 17 f. "vor Beginn der Leistung").
2 Rechtspraxis
2.1 "Vorläufige" Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Minderjährigen
Rz. 3
Abs. 1 normiert die örtliche Zuständigkeit für die "vorläufige" Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Minderjährigen nach § 42a. Zuständig ist demnach der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, in dessen Bereich sich der Minderjährige vor Beginn der Schutzmaßnahme tatsächlich aufhält. Das ist in den meisten Fällen der Ort, an dem die Einreise des unbegleiteten ausländischen Minderjährigen erstmals festgestellt wird, d. h. der Ort des "Aufgriffs" des Kindes bzw. Jugendlichen oder dessen Selbstmeldung (vgl. hierzu die RegBegr. BT-Drs. 18/5921 S. 29). In Rechtsprechung (Bay VGH, Beschluss v. 14.3.2017, 12 CE 17.507, Rz. 10) und Literatur (Lange, in: Luthe/Nellissen, juris-PK SGB VIII, § 88a Rz. 15) wird indes auf den Wortlaut des Abs. 1 hingewiesen, wonach der Ort für die Zuständigkeit maßgeblich ist, wo das Kind oder der Jugendliche sich "vor Beginn der Maßnahme" tatsächlich aufhält, d. h. vor Beginn der jeweiligen vorläufigen Schutzmaßnahme durch das Jugendamt. Polizeiliche Maßnahmen, etwa der Aufgriff und das Verbringen in eine Jugendschutzstelle sind für die Zuständigkeit nicht maßgeblich (Lange, a. a. O.). Ist allerdings zuvor ein Zuweisungsbescheid nach § 42b Abs. 3 Satz 1 ergangen, so ist dieser zu beachten (DIJuF-Rechtsgutachten v. 2.3.2017, SN_2017_0651 DE/Af, JAmt 2018 S. 147). Die Länder sind befugt, hiervon abweichende Regelungen zu treffen und können diese Zuständigkeit auch bestimmten, besonders geeigneten Jugendämtern zuweisen. Hiervon hat bisher allein Brandenburg Gebrauch gemacht (§§ 24b und 24d AGKJHG, GVBl. I/97, Nr. 07, S. 87 i. d. F. v. 15.10.2018, GVBl. I/18, Nr. 22, S. 27 zur Einrichtung von Schwerpunktjugendämtern).
Rz. 3a
Macht ein Zuwanderer den Anspruch auf vorläufige Inobhutnahme gerichtlich geltend, nachdem der angegangene Jugendhilfeträger dies abgelehnt hatte, weil er ihn als volljährig einstufte, so ist dieser Jugendhilfeträger im gerichtlichen Verfahren passivlegitimiert (Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 88a Rz. 17.1 mit Hinweis auf VG München, Beschlüsse v. 9.2.2015, M 18 E 14.5261 und v. 26.10.2016, M 18 E 16.4081 sowie Bay.VGH, Beschluss v. 14.3.2017, 12 CE 17.507). Gelangt das für die vorläufige Inobhutnahme zuständige Jugendamt im Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f zum Ergebnis, der Betreffende sei bereits volljährig, so wird es die vorläufige Inobhutnahme durch Bescheid für beendet erklären. Widerspruch und Klage gegen diese Entscheidung haben gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 keine aufschiebende Wirkung. Stellt auf dessen Antrag das VG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alternative VwGO wieder her und ordnet es gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO die Aufhebung der Vollziehung an, so lebt die vorläufige Inobhutnahme bei dem zuvor angegangenen Jugendamt wieder auf, auch dann, wenn der Betroffene sich inzwischen in einem anderen Zuständigkeitsbereich aufhält (Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 88a Rz. 17.1 mit Hinweis auf DIJuF-Rechtsgutachten 23.1.2020, SN 2019 1313 Af, JAmt 2020 S. 152).
Rz. 3b
Wie zu verfahren ist, wenn der unbegleitete minderjährige Ausländer aus der Aufnahmeeinrichtung entweicht und abgängig ist, aber an einem anderen Ort später wieder auftaucht, ist unklar. Zunächst ist fraglich, ob der Zuweisungsbescheid nach einer Abgängigkeit von mehr als 48 Stunden durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (vgl. § 39 Abs. 2 SGB X), sodass nach Wiederauftauchen ein neuer Fall der vorläufigen Inobhutnahme im Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendamtes anzunehmen ist (so Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 88a Rz. 22), oder ob das zunächst zuständig gewesene Jugendamt weiterhin für die vorläufige Inobhutnahme zuständig ist, solange keine Zuweisung im Verteilverfahren erfolgt (so Kepert, in: Kunkel/Keper...