Rz. 12

Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung haben nur Bedürftige, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und damit volljährig (§ 2 BGB) sind. Minderjährige haben keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Für den Begriff der "vollen Erwerbsminderung" verweist der Gesetzgeber auf § 43 Abs. 2 SGB VI. Diese Vorschrift lautet:

Zitat

(2) Versicherte haben bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

  1. voll erwerbsgemindert sind,
  2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
  3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch

  1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
  2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
 

Rz. 13

Schon der Wortlaut des § 41 Abs. 1 Nr. 2 macht deutlich, dass hier lediglich auf den Begriff der "vollen Erwerbsminderung" in § 43 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VI und keinesfalls auf die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI verwiesen werden soll (Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, § 41 Rz. 7; Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, K § 41 Rz. 19; Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 41 Rz. 6; Kreiner, in: Oestreicher, SGB XII/SGB II, § 41 Rz. 9).

Andernfalls hätten Personen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht gegen das Risiko der Erwerbsminderung abgesichert sind, keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, was dem erklärten Ziel des Gesetzgebers, alle Hilfebedürftigen zu erfassen, zuwiderlaufen würde. Grundsicherungsleistungen setzen also keinesfalls voraus, dass der Antragsteller eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung bezieht.

 

Rz. 14

Im Rahmen des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist deshalb zu prüfen, ob der Betroffene wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine teilweise Erwerbsminderung i. S. d. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI reicht ebenso wenig aus wie eine teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI.

2.3.1 Krankheit oder Behinderung

 

Rz. 15

Krankheit ist jeder regelwidrige körperliche, geistige oder seelische Zustand, der geeignet ist, die Erwerbsfähigkeit herabzusetzen (BSG, Urteile v. 20.12.1960, 4 RJ 118/59, SozR Nr. 11 zu § 1246 RVO, und v. 25.5.1961, 5 RKn 3/60, SozR Nr. 5 zu § 45 RKG; Jörg, in: Kreikebohm, SGB VI, § 43 Rz. 21; Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, § 41 Rz. 8). Regelwidrig sind solche Körper- oder Geisteszustände, die vom Leitbild des gesunden Menschen abweichen (BSG, Urteil v. 28.4.1967, 3 RK 12/65, SozR Nr. 23 zu § 182 RVO). In diesem Sinne ist "gesund", wer alle psycho-psychischen Normalfunktionen ausüben kann (BSG, Urteil v. 20.10.1972, 3 RK 93/71, SozR Nr. 52 zu § 182 RVO).

Zusammengefasst ist Krankheit somit ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Ausübung der normalen körperlichen und/oder geistigen Funktionen (mehr als nur unerheblich) beeinträchtigt (Muckel, Sozialrecht, 2003, § 8 Rz. 90). Unter diesen (eingliedrigen) Krankheitsbegriff fallen deshalb auch Suchterkrankungen (BSG, Urteile v. 18.6.1968, 3 RK 63/66, SozR Nr. 28 zu § 182 RVO, v. 15.2.1978, 3 RK 29/77, SozR 2200 § 184a Nr. 1, und v. 20.3.1996, 6 RKa 62/94, SozR 3-2500 § 92 Nr. 6) sowie psychische Gesundheitsstörungen, die der Betroffene auch durch eine zumutbare Willensanspannung nicht mehr aus eigener Kraft beheben kann (BSG, Urteile v. 18.12.1962, 2 RU 189/59, SozR Nr. 61 zu § 542 RVO, v. 1.7.1964, 11/1 RA 158/61, SozR Nr. 39 zu § 1246 RVO, v. 28.8.1970, 3 RK 74/67, und v. 28.8.1970, 3 RK 74/67).

Zu den Krankheiten zählen ferner erhebliche Entstellungen, die zwar keine Arbeitsunfähigkeit auslösen, dem Betroffenen aber faktisch alle Einstellungschancen rauben (vgl. Niesel, in: KassKomm., SGB XII, § 43 Rz. 21). Der bloße Verdacht, dass eine Krankheit vorliegt, reicht keinesfalls aus (BSG, Urteil v. 27.6.1968, 4 RJ 377/67, BSGE 28 S. 137, 139).

 

Rz. 16

Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Im Gegensatz zur (akuten, behandlungsfähigen) Krankheit umfasst die Behinderung körperliche, geistige oder seelische Einbußen, deren Entwicklung abgeschlossen ist,...

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