Rz. 1
Das deutsche Sozialleistungssystem ist geprägt von einer Vielzahl von Einzelleistungstatbeständen zur Behebung oder Milderung verschiedenster Lebensrisiken, die je nach Ausgestaltung im Einzelnen nach dem Versicherungs-, dem Versorgungs-, dem Fürsorgeprinzip oder nach Mischformen aus den drei Prinzipien aufgebaut sind (zur Systematisierung vgl. v. Maydell/Ruland/Becker, SRH, 5. Aufl. 2012, A 1, Rz. 11 ff.). Die Versicherungs- und Versorgungsleistungen werden bei Vorliegen der Voraussetzungen auch dann erbracht, wenn der Betroffene nach seiner materiellen Lage (Einkommen, Vermögen, Ansprüche gegen Dritte) die abzudeckende Notlage selbst beheben könnte. Dies trifft etwa zu auf die Leistungen der Renten-, Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung, der Arbeitsförderung, des Kindergeldes, hinter denen sich zum Teil ausgedehnte Leistungsfelder erstrecken. Es sei nur verwiesen auf das umfangreiche Rehabilitationsrecht der Rentenversicherung oder das vielfältig differenzierte Leistungsrecht des Arbeitsförderungsgesetzes (instruktiv: v. Maydell/Ruland/Becker, a.a.O., A 2 und B 6).
Rz. 2
Allerdings sind nicht sämtliche, noch nicht einmal alle wesentlichen Lebensrisiken auf diese Weise abgesichert. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die Eingliederung behinderter Menschen, denen eine angemessene Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wegen ihrer Behinderung verwehrt ist oder die wegen ihrer Behinderung trotz entsprechender arbeits- und berufsfördernder Maßnahmen keinen Platz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einnehmen können (W. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl. 2010, Einführung Rz. 1 ff.).
Rz. 3
Für diese existentiellen Bedarfslagen greift (ausschließlich) das Fürsorgerecht in Gestalt der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ein (Fichtner/Wenzel, SGB XII, 4. Auf. 2009, Rz. 22 vor § 53). Auf dieser fürsorgerischen Grundlage hat sich eine Einrichtungs- und Hilfsstruktur für behinderte Personen entwickelt, deren laufender Finanzbedarf weitestgehend aus Sozialhilfemitteln finanziert wird. Wohn- und Betreuungseinrichtungen für behinderte Personen, Werkstätten und Tagesförderstätten für behinderte Personen, Förderkindergärten und Komplexeinrichtungen, in denen alle notwendigen Hilfen für behinderte Personen aus einem Guss geleistet werden, sind in einer jahrzehntelangen Entwicklung zur heute vorgefundenen Struktur gewachsen (Baur, Behinderung und Pflege - Zum Verhältnis von Sozialhilfe und Pflegeversicherung, ZfSH/SGB 1997 S. 580). Die 23 überörtlichen Sozialhilfeträger im Bundesgebiet veröffentlichen mit den Kennzahlenberichten wichtige Informationen und Ergebnisse ihrer Erhebungen im Bereich der Eingliederungshilfe aktuell: Kennzahlenvergleich der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 2011, veröffentlicht im Internet auf der Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe unter www.bagues.de).
Rz. 4
Die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger in Deutschland haben im Jahre 2011 insgesamt 25 Mrd. EUR ausgegeben. Die Ausgaben für die Hilfe in besonderen Lebenslagen im Jahre 2011 stiegen auf 19 Mrd. EUR, das entspricht einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 3,7 %. Darunter sind insbesondere die Eingliederungshilfen für behinderte Menschen mit 14,4 Mrd. EUR von Bedeutung. Diese Hilfen verzeichneten einen Anstieg von 4,0 % gegenüber dem Vorjahr. Seit In-Kraft-Treten des BSHG im Jahr 1961 stieg die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (1963: ca. 400 Mio. EUR) ununterbrochen bis zum heutigen Tage an. Dieser Trend wird sich auch künftig fortsetzen (Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 2.2 "Sozialhilfe - Hilfe in besonderen Lebenslagen").
Rz. 5
Nach Schätzungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zeichnet sich folgende Entwicklung ab (NDV 2010 S. 245):
Zu Beginn des Jahres 2002 befanden sich rund 162.000 volljährige Personen mit Behinderungen in stationärer Betreuung. Bis zum Beginn des Jahres 2010 stieg sich diese Zahl auf 190.000 Personen, das entspricht einer Steigerung um 17 %. Im Jahr 2014 ist mit einer Belegung von annähernd 200.000 Personen zu rechnen.
Zum Ende des Jahres 2002 erhielten rund 40.000 Menschen mit Behinderungen ambulante Hilfen in betreuten Wohnformen; diese Zahl stieg bis zum Jahre 2010 auf 193.000. Das entspricht einer Steigerung von annähernd 400 %. Die Gesamtfallzahlen (stationär und ambulant zusammen) steigen somit von 202.000 auf 340.000; das entspricht einer Steigerung von 70 % innerhalb von 8 Jahren (dazu auch: Baur, Die Zukunft der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, br 2004 S. 61). Die Gründe für den Fallzahl- und Kostenanstieg liegen zum einen in der infolge des medizinischen Fortschritts erheblich gestiegenen Lebenserwartung behinderter Menschen, zum anderen werden die Maßnahmen der Eingliederungshilfe insgesamt immer kostenaufwendiger (Gitschmann, NDV 2013 S. 153). Auch der Rückzug vorrangiger Leistungssysteme spielt eine nicht unerhebliche Rolle.
Rz. 6
Leistungsberechtigt sind...