0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist mit dem Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz (UVEG) am 1.1.1997 in Kraft getreten. Im Gegensatz zu dem bis zum 31.12.1996 geltenden Recht (§ 607 RVO) ist nicht nur der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 auf 40 % angehoben worden, sondern es ist nun weder eine Zweckbindung (Erwerb oder wirtschaftliche Stärkung eigenen Grundbesitzes oder grundstücksgleicher Rechte) noch ein Nützlichkeitsnachweis (§ 608 Nr. 3 RVO) erforderlich. Durch die nicht mehr beschränkte Abfindung ist auch die besondere Regelung der Abfindung als Existenzgrundlage (§ 613 RVO) entfallen.
Rz. 2
Das Mindestalter für die Gewährung einer Rentenabfindung wurde mit dem UVEG vom 21. auf das 18. Lebensjahr herabgesetzt (§ 608 Nr. 1 RVO). Auf ein Höchstalter für die Gewährung einer Rentenabfindung wurde abweichend von der bis zum 31.12.1996 geltenden Fassung verzichtet.
Rz. 3
Die Vorschrift gilt auch für Fälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens des UVEG am 1.1.1997 eingetreten sind, wenn die beantragte Abfindung erstmals nach dem 31.12.1996 festzusetzen ist (vgl. § 214 Abs. 3 Satz 1).
1 Allgemeines
Rz. 4
Die Vorschrift regelt die sog. große Abfindung. Der Umfang der Abfindung, deren Berechnung und deren Auswirkungen sind in § 79 geregelt. Im Gegensatz zur lebenslangen Abfindung der sog. kleinen Renten nach einem Grad der MdE von unter 40 % gemäß § 76 ist die Abfindung dieser Renten lediglich für einen Zeitraum von 10 Jahren und dies auch nur bis zur Hälfte möglich. Diese zeitlich befristete Abfindung ist der Annahme geschuldet, dass Renten ab einer MdE von 40 % zur existenziellen Absicherung bestimmt sind. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Versicherte der sog. großen Renten eher auf die laufende Rentenzahlung angewiesen sind, als dies bei den kleinen Renten der Fall ist.
Rz. 5
Der Anspruch auf Heilbehandlung und Leistungen zur Teilhabe bleibt durch die Abfindung unberührt.
Rz. 6
Die Abfindung ist eine Ermessensleistung auf Antrag des Versicherten, auf die kein Rechtsanspruch besteht.
2 Rechtspraxis
2.1 Voraussetzungen der Abfindung
Rz. 7
Abgefunden werden nur Renten auf unbestimmte Zeit. Dies ergibt sich mittelbar aus Abs. 2 Nr. 2, wonach nicht zu erwarten sein darf, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit innerhalb des Abfindungszeitraums wesentlich sinkt. Eine Rente als vorläufige Entschädigung würde diese Voraussetzung nicht erfüllen. Die Prüfung und – bei Vorliegen der Voraussetzungen – die Gewährung einer Abfindung kann nur aufgrund eines vorherigen Antrags (vgl. Komm. in Rz. 6 zu § 76) des Versicherten erfolgen. Ohne einen solchen kann der Unfallversicherungsträger von sich aus keine Entscheidung über eine Abfindung treffen.
Rz. 8
Die Entscheidung über die Abfindung trifft der Unfallversicherungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen. Im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ist auch zu prüfen, ob durch die Abfindung schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit verletzt werden. Dies ist der Fall, wenn durch die Gewährung der Abfindung und den damit verbundenen 10-jährigen Wegfall der laufenden Rentenzahlung zur Hälfte der Versicherte leistungsberechtigt nach dem SGB II (Grundsicherung) wird bzw. hiernach höhere Leistungen als bisher beanspruchen kann. Es gelten die zur Ermessensausübung im Rahmen des § 76 erfolgten Ausführungen entsprechend (vgl. die Komm. in Rz. 7 zu § 76).
Rz. 9
Ein bestimmter Verwendungszweck für die beantragte Abfindung ist vom Versicherten nicht anzugeben und dürfte auch nicht bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden.
Rz. 10
Wie auch bei der Abfindung von Renten mit einer MdE unter 40 % setzt die Abfindung hier eine normale Lebensdauer des Versicherten voraus (vgl. die Komm. in Rz. 10 zu § 76). Ist aufgrund des Gesundheitszustandes des Versicherten wahrscheinlich, dass er vor Ablauf des Abfindungszeitraums verstirbt, kann die Abfindung versagt werden (zur Prognoseentscheidung: Hess. LSG, Urteil v. 28.1.2020, L 3 U 90/17; SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid v. 29.4.2020, S 1 U 688/19). In Rechtsprechung und Literatur wird überwiegend eine solche Wahrscheinlichkeit nur dann als hoch und damit als Versagungsgrund angesehen, wenn mit dem Tod in einem Zeitraum von etwa 3 Jahren gerechnet werden kann, weil es sich insofern um einen weitgehend zuverlässigen überschaubaren Zeitraum handele (so SG Kiel, Urteil v. 18.9.2002, S 2 U 123/01; Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, § 78 Rz. 7 unter Hinweis auf ein Rundschreiben des BMA v. 20.12.1971, Va 3-52 zu § 73 BVG; Jung, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, § 78 Rz. 11; Plum, in: Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 05/18, US 0640 S. 17, der jedoch fälschlich als Befürworter dieser Ansicht Kranig in Hauck/Noftz anführt; dieser vertritt jedoch vielmehr die abweichende Auffassung, dass diese Anforderung an eine Versagung der Abfindung im Hinblick auf den 10-Jahres-Zeitraum zu weitgehend sei, vgl. Kranig, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 78 Rz. 11).
2.2 Mehrere Renten
Rz. 11
Hat der Versicherte Anspruch auf mehrere Renten auf unbestimmte Zeit aus der Unfallversicherung, kommt eine Abfindung nur in Betracht, wenn deren Vomhundertsätze zusammen...