Rz. 15
Nr. 2 setzt weiter und kumulativ voraus, dass das betroffene Kind oder der betroffene Jugendliche in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Die in Nr. 2 aufgestellte Anspruchsvoraussetzung, Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, beinhaltet sozialpädagogische Gesichtspunkte bzw. die Beurteilung psychosozialer Belastungsfaktoren und daraus resultierende Anpassungsrisiken und Eingliederungsschwierigkeiten – sog. Funktionsbeeinträchtigung oder Teilhabebeeinträchtigung. Seelische Störungen allein genügen noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung; hinzukommen muss die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft; selbst beim Vorliegen einer Störung der seelischen Gesundheit ist Eingliederungshilfe daher zu versagen, wenn weder eine fehlende Teilhabe des Kindes am Leben in der Gesellschaft besteht, noch ihm die Gefahr einer Teilhabebeeinträchtigung droht (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 25.3.2021, 12 A 4091/19 Rz. 9). Es gilt daher die Formel seelische Störung + Funktionsbeeinträchtigung = seelischer Behinderung. Deshalb kommt es für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, auf das Ausmaß und den Grad der seelischen Störung an. Entscheidend ist, ob diese seelische Störung so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt (VG Braunschweig, Urteil v. 23.5.2002, 3 A 347/01). Eine Auslegung des Begriffs der "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist i. S. v. Partizipation bzw. Integration in sozialer, familiärer, schulischer oder beruflicher Hinsicht zu verstehen; eine Beeinträchtigung ist gegeben, wenn die Teilhabe aufgrund der seelischen Störung i. S. d. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in einem der Lebensbereiche tatsächlich eingeschränkt ist (v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a Rz. 47). Die Einschätzungsprärogative liegt dabei ausschließlich beim Jugendamt und kann nicht durch die medizinische Einschätzung von Ärzten oder Psychotherapeuten ersetzt werden, die allein die seelische Störung zu beantworten haben (einh. h. M., vgl. stellv. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 25.3.2021, 12 A 4091/19 Rz. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.4.2021, 12 B 483/21 Rz. 9). Fachkräfte des Jugendamts selbst haben also aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds des betroffenen Kindes oder Jugendlichen und ihres sozialpädagogischen und ggf. psychologischen Sachverstands zu beurteilen, wie sich die Funktionsbeeinträchtigung im Hinblick auf die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft auswirkt, ohne dass insoweit eine fachärztliche oder psychotherapeutische Stellungnahme erforderlich ist (OVG Lüneburg, Beschluss v. 31.3.2020, 10 ME 69/20 Rz. 10 mit Anm. von Wiesner, ZKJ 2020, 230).
Rz. 16
Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen (VG Hannover, Urteil v. 20.5.2008, 3 A 2622/07). Die Feststellung der Funktionsbeeinträchtigung ist vom Jugendamt aufgrund seiner eigenen Fachkompetenz zu treffen, ohne dass insoweit eine fachärztliche oder psychotherapeutische Stellungnahme erforderlich ist; die Einschätzung des Vorliegens einer Teilhabebeeinträchtigung fällt daher in die Fachkompetenz des öffentlichen Jugendhilfeträgers (Sächs. OVG, Beschluss v. 5.4.2013, 1 A 346/11; Sächs. OVG, Beschluss v. 20.2.2015, 4 A 128/14 Rz. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.10.2014, 12 B 870/14 Rz. 19; vgl. zur Entscheidungsbefugnis bei der Beurteilung einer seelischen Behinderung/Störung auch hier Rz. 5). Der nach § 35a Abs. 1a einzuholenden fachärztlichen Stellungnahme zur Feststellung der Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 kann jedoch auch für die Beurteilung dieser Frage eine sowohl vom Jugendamt als auch vom Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung zu berücksichtigende beachtliche Aussagekraft zukommen (Niedersächsisches OVG, Beschluss v. 11.6.2008, 4 ME 184/08). Die gerichtliche Kontrolle der Anspruchsvoraussetzungen hingegen ist nicht eingeschränkt, der Begriff der Teilhabebeeinträchtigung als unbestimmter Rechtsbegriff unterliegt im vollen Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (Sächs. OVG, Beschluss v. 18.7.2022, 3 B 120/22; OVG Lüneburg, Beschluss v. 23.6.2022, 14 ME 243/22 (für alle Tatbestandsvoraussetzungen); so zutreffend auch VG Aachen, Urteil v. 14.3.2019, 1 K 764/18); aufseiten des Jugendamtes besteht insoweit kein Beurteilungsspielraum. Das Verwaltungsgericht ist daher etwa durch einen negierenden Hilfeplan des Jugendamtes nicht gebunden (OVG Lüneburg, Besc...