Rz. 19
Der Gesetzgeber hat den Begriff der Notwendigkeit durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) mit Wirkung zum 10.6.2021 gestrichen und ersetzt durch den Begriff nicht gewährleistet. Danach ist nunmehr ab dem 10.6.2021 die Hilfe (bereits) zu gewähren, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. War daher nach altem Recht eine Prognose im Hinblick auf eine Verbesserung der eigenverantwortlichen Lebensführung notwendig, ist nunmehr eine Gefährdungseinschätzung notwendig, um zu ermitteln, ob ohne die begehrte Leistung der junge Volljährige in seiner Persönlichkeitsentwicklung und damit in der selbstbestimmten, eigenverantwortliche und selbständigen Lebensführung zumindest gefährdet ist (auf die Änderung der Rechtslage macht auch aufmerksam v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 41 Rz. 15).
Rz. 20
Sinn der Neuregelung der Voraussetzungen der Gewährung von Hilfen an junge Volljährige nach Abs. 1 Satz 1 ist es, die Gewährung verbindlicher zu regeln; dies wird durch die explizitere Formulierung der Tatbestandsvoraussetzungen erreicht (BR-Drs. 5/21 S. 92 = BT-Drs. 19/26107 S. 94). Der Gesetzgeber wollte damit dem Umstand Rechnung tragen, dass die individuelle Persönlichkeitsentwicklung von der abstrakt juristisch bestimmten Volljährigkeit abweicht und junge Menschen insbesondere aufgrund verlängerter Schul- und Ausbildungszeiten zunehmend später selbständig werden (so ausdrücklich unter Bezugnahme auf den 14. Kinder- und Jugendbericht, BT-Drs. 17/12200 S. 416). Der Gesetzgeber sah insoweit Voraussetzungen als bislang nicht präzise genug bestimmt an, da insoweit bisher lediglich auf die Notwendigkeit der Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen abgestellt wurde. Mit der Neuregelung sollen daher die Rechte des jungen Volljährigen gestärkt werden.
Rz. 21
Der Prüfungsauftrag an den öffentlichen Träger lautet künftig festzustellen, ob im Rahmen der Möglichkeiten des jungen Volljährigen die Gewährleistung einer Verselbständigung nicht oder nicht mehr vorliegt. Die Anforderungen an die Prognoseentscheidung des öffentlichen Trägers sind damit im Vergleich zur alten Regelung des § 41 Abs. 1 Satz 1 (a. F. gültig bis 9.6.2021) geschärft, rechtsklarer und rechtssicherer gefasst. Es wird nunmehr klargestellt: Eine Hilfegewährung nach § 41 verlangt keine Prognose dahingehend, dass die Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres oder bis zu einem begrenzten Zeitraum darüber hinaus erreicht wird (vgl. auch Achterfeld/Knörzer/Seltmann, JAmt 2021 S. 298). Die Prognoseentscheidung nach dem neu gefassten Satz 1, die der öffentliche Träger zu treffen hat, erfordert künftig vielmehr eine "Gefährdungseinschätzung" im Hinblick auf die Verselbständigung (BR-Drs. 5/21 S. 92= BT-Drs. 19/26107 S. 94). Dem Antrag auf Hilfe eines jungen Volljährigen ist daher nach der neuen Rechtslage demnach nunmehr stets zu entsprechen, sofern der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht darlegen und beweisen kann, dass der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung bereits abgeschlossen ist (so zutreffend Achterfeld/Knörzer/Seltmann, JAmt 2021 S. 298).
Rz. 22
Mit der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen wird dennoch deutlich, dass nicht in der Mehrzahl der Fälle generalisierend eine weitere Hilfe erforderlich ist, sondern jeder Einzelfall zu prüfen ist (vgl. hierzu auch BR-Drs 5/21 (Beschluss), Nr. 24, S. 23; zwar ist der hier vorgeschlagene Gesetzestext nicht umgesetzt worden, das Wort "gewährleistet" sollte durch die Wörter "erwarten lässt" ersetzt werden, an der Einzelfallprüfung mit Ausnahmecharakter ändert dieser Umstand jedoch nichts).
Rz. 23
Bereits zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "Notwendigkeit" hat die bisherige Rechtsprechung die Tendenz erkennen lassen, zugunsten des jungen Volljährigen zu entscheiden und an die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Volljährigen daher keine überspannten Anforderungen zu stellen. Bereits geringe Entwicklungsmöglichkeiten reichten daher nach der alten Rechtslage für die Eignung einer Hilfemaßnahme aus (vgl. stellv. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 8.3.2016, 12 B 1515/15 Rz. 14, m. w. N.; vgl. insoweit auch die Komm. zur alten Rechtslage unter Abschnitt Notwendigkeit - alte Rechtslage bis 9.6.2021, Rz. 11 ff.).
Rz. 24
Deshalb ist auch unter der neuen Rechtslage ein Rückgriff auf die bisherige Rechtsprechung zur alten Rechtslage opportun. Allerdings dürfte in Zweifelsfällen, wo früher die Annahme der Hilfevoraussetzungen verneint wurde, aufgrund der Intention des Gesetzgebers heute eher die Voraussetzungen zu bejahen sein, denn mit der Neureglung durch das KJSG sollten letztlich die Voraussetzungen zugunsten des jungen Volljährigen expliziter geregelt und damit dessen Rechte gestärkt werden.