Rz. 35
Ausnahmsweise kann gemäß § 41 Abs. 1 Satz 2 HS 2 die Hilfe in begründeten Einzelfällen auch darüber hinaus bis zum 27. Lebensjahr fortgesetzt werden (vgl. auch bei Münder, SGB VIII, § 41 Rz. 9). Hierbei muss es sich aber um eine Fortsetzung einer bereits bewilligten zulässigen Hilfe bis zur Regelaltersgrenze handeln; sog. Fortsetzungshilfe (zum Begriff vgl. auch bei Winkler, in: BeckOK, SGB VIII, Stand: 1.12.2022, § 41 Rz. 23; Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 01/2018, § 41 SGB VIII, Rz. 14a). Die Hilfegewährung über das 21. Lebensjahr hinaus setzt daher voraus, dass sie bereits vor diesem Zeitpunkt eingeleitet worden ist und somit ein Fortsetzungszusammenhang besteht; der Neubeginn einer Maßnahme scheidet nach Vollendung des 21. Lebensjahres daher aus (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.6.2020, 12 A 2766/17 Rz. 7). Nicht erforderlich ist allerdings, dass die Fortsetzungshilfe in der Ausgestaltungsform identisch mit der ursprünglich eingeleiteten Hilfe ist, da ein Wechsel innerhalb des Leistungsrahmens nach Abs. 2 die rechtliche Qualifizierung der Volljährigenhilfe unberührt lässt (Stähr, a. a. O., Rz. 14c).
Rz. 36
Dabei liegt die äußerste zeitliche Grenze der Hilfegewährung in der Vollendung des 27. Lebensjahres, was sich aus der Legaldefinition des Begriffs "junger Mensch" aus § 7 Abs. 1 Nr. 4 ergibt. Der junge Mensch gehört nach § 41 Abs. 1 Satz 1 ausdrücklich nicht (mehr) zum anspruchsberechtigten Personenkreis und kann daher keine Hilfe mehr nach § 41 Abs. 1 erhalten; die Vollendung des 27. Lebensjahres stellt daher eine absolute Grenze für die Zuständigkeit der Jugendhilfe dar (VG Lüneburg, Urteil v. 10.4.2018, 4 A 443/16 Rz. 30; VG Cottbus, Urteil v. 17.6.2014, 3 K 402/12 Rz. 25; v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 41 Rz. 19).
Rz. 37
Der begründete Einzelfall ist nicht näher definiert und angesichts der Vielzahl verschiedener Hilfearten, die § 41 betrifft, eine Frage des Einzelfalls. Der begründete Einzelfall ist immer dann zu bejahen, wenn die Beendigung der Hilfe das Erreichen der Ziele der bisherigen Hilfeleistung i. S. d. § 41 und das Erreichen der allgemeinen Ziele der Jugendhilfe i. S. d. § 1 Abs. 1 unmöglich macht. Hierbei ist die individuelle Situation des jungen Volljährigen zu berücksichtigen (ähnlich Münder, § 41 SGB VIII, Rz. 9). Die Förderung soll nicht an der starren Altersgrenze von 21 Jahren scheitern. Allerdings stellt der Gesetzgeber erhöhte Anforderungen an die Notwendigkeit der Hilfegewährung für junge Volljährige nach der Vollendung des 21. Lebensjahres und damit an die positive Prognose des Entwicklungsprozesses des Betroffenen (zu den erhöhten Anforderungen vgl. auch Sächs. OVG, Urteil v. 25.11.2014, 1 A 742/12 Rz. 25). Es muss eine hohe Wahrscheinlichkeit (über 50 %) – also eine qualifizierte Wahrscheinlichkeit – dafür bestehen, dass ein erkennbarer und schon Fortschritte zeigender Entwicklungsprozess zur Erreichung der in § 41 Abs. 1 Satz 2 genannten Ziele vorliegt, der durch die Weitergewährung der Hilfemaßnahme gefördert werden könnte (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.9.2017, 12 E 303/17; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.8.2010, 12 A 518/09, das für die hohe Wahrscheinlichkeit im Einzelfall auf die erkennbaren Fortschritte des Entwicklungsprozesses und etwaige erreichte Zwischen-/Ziele abstellt; BayVGH, Urteil v. 24.5.2006, 12 B 04.1227; vgl. zum Begriff "hohe Wahrscheinlichkeit" auch Komm. zu § 35a Abs. 1 Satz 2 und Verweis in Satz 3; zur einfachen Wahrscheinlichkeit bei der Personengruppe bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres vgl. Rz. 8a). Namentlich bei der Eingliederungshilfe wegen einer seelischen Behinderung i. S. d. § 35a ist ein begründeter Einzelfall regelmäßig zu bejahen (so im Ergebnis OVG Lüneburg, Beschluss v. 25.1.2000, 4 L 2934/99). Der begründete Einzelfall ist gerichtlich voll überprüfbar; es besteht kein Beurteilungsspielraum.
Rz. 38
Ein begründeter Einzelfall ist von der Rechtsprechung u. a. angenommen worden, wenn es aufgrund der individuellen Situation inhaltlich nicht sinnvoll erscheint, die Hilfeleistung mit dem 21. Lebensjahr zu beenden, wovon i. d. R. auszugehen ist, wenn der Betroffene gravierende Defizite im Hinblick auf seine persönliche Entwicklung aufweist und in verschiedenen Bereichen auch weiterhin aufgrund schwerer psychischer Probleme umfängliche Hilfe benötigt (VG München, Beschluss v. 31.8.2020, M 18 E 20.3749 Rz. 46 ff.).