Rz. 6
Soweit die Voraussetzungen des § 86 d vorliegen, also entweder die örtliche Zuständigkeit (noch) nicht feststeht oder der an sich zuständige Träger nicht tätig wird, muss der Träger "am Ort des Geschehens" vorläufig tätig werden. Dies ist der Jugendhilfeträger, in dessen räumlichen Zuständigkeitsbereich das Kind, der junge Volljährige oder bei Leistungen nach § 19 der dafür Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung seinen tatsächlichen Aufenthalt hat. Da der Zeitpunkt des tatsächlichen Aufenthalts vor Beginn der Leistung maßgeblich ist, muss der Zeitpunkt des Beginns der Leistung durch Auslegung bestimmt werden. Nach der Rechtsprechung des BVerwG (zuletzt Urteil v 19.10.2011, 5 C 25/109; ebenso: OVG Lüneburg, Beschluss v 15.4.2010, 4 LC 266/08; vgl. auch Kunkel, in: LPK SGB VIII, § 86 Rz. 9; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2008 S. 286; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 86d Rz. 28) ist der Beginn der tatsächlichen Leistungserbringung maßgeblich. Die Gegenmeinung hält den Beginn eines auf Antrag hin beginnenden Verwaltungsverfahrens für maßgeblich (OVG Münster, Beschluss v 27.1.2010, 12 B 1717/09; BayVGH, Beschluss v. 20.5.2009, 12B08/2007; Bohnert, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, § 86d Rz. 14). Bei einer länger andauernden Leistungsgewährung, z. B. der sozialpädagogischen Familienhilfe, kann es schwierig sein, den unter Umständen länger zurückliegenden Leistungsbeginn i. S. d. § 86 Abs. 2 Satz 2 zu bestimmen. Da die Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden nach § 86d gewährleisten soll, dass das Kind oder der Jugendliche nicht unversorgt bleibt, muss in einer derartigen Not- oder Eilsituation, in der sich kein öffentlicher Träger der Jugendhilfe für örtlich zuständig hält, die Frage, welcher Träger zu dem jedenfalls erforderlichen vorläufigen Tätigwerden berufen ist, schnell und eindeutig beantwortet werden können. Daher ist hier der Beginn der vorläufigen Leistung als solcher, also der Leistung, um die es § 86d gerade geht, maßgeblich (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 28.4.2015, 12 S 1274/14; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 86d Rz. 31).
Rz. 6a
Nach der Intention und dem Wortlaut kann es sich bei dieser "vorläufigen" Verpflichtung allenfalls um eine zeitlich begrenzte Pflicht des Tätigwerdens handeln. Dabei beschränkt sich dieses vorläufige Handeln nicht ausschließlich auf Akutmaßnahmen, sondern umfasst im Bedarfsfall alle in der jeweiligen Bedarfssituation erforderlich werdenden Jugendhilfemaßnahmen einschließlich der nach § 36 notwendigen Hilfeplanung. Im Zuge der Pflicht zum vorläufigen Tätigwerden gilt es neben der rechtzeitigen Deckung des notwendigen Jugendhilfebedarfs zugleich, die Klärung der örtlichen Zuständigkeit zu betreiben, um so den an sich zuständigen Träger zur Gewährung der Leistung bzw. zur Fortsetzung der bereits eingeleiteten Maßnahmen zu bewegen. Bleibt dieser in Kenntnis seiner Leistungspflicht – selbst auf Drängen des vorläufig tätig gewordenen Trägers – endgültig untätig, so endet damit gleichzeitig die vorläufige Leistungspflicht i. S. d. § 86d (ebenso Kunkel/Kepert, in: Lehr- und Praxiskommentar SGB VIII , § 86d Rz. 10; a. A. Loos, in: Wiesner, SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, zu § 86d). Der zur Jugendhilfeleistung berechtigte Anspruchsteller muss in diesem Fall seinen Leistungsanspruch unter Umständen verwaltungsgerichtlich gegenüber dem nach §§ 86 bis 86b örtlich zuständigen Jugendhilfeträger durchsetzen, erforderlichenfalls im Wege der Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes.