0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
§ 86d wurde im Zuge des 1. SGB VIII-ÄndG zum 1.4.1993 eingeführt und ersetzt damit § 85 Abs. 3 a. F. § 86d gilt für alle Zuständigkeitsregelungen des Ersten Unterabschnitts (Örtliche Zuständigkeit für Leistungen) und wurde ihrer Bedeutung wegen als eigenständige Bestimmung – ebenso wie § 86 c – den regulären Zuständigkeitsnormen (§§ 86 bis 86b) angefügt. § 86d gilt seit dem 1.1.2012 i. d. F. der Bekanntmachung v. 11.9.2012 (BGBl. I S. 2022).
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift begründet als sog. "Auffangvorschrift" die vorläufige Leistungspflicht zum Schutz des Leistungsberechtigten zur Abwendung für ihn nachteiliger Folgen. Gerade bei Akutmaßnahmen stellen sich in der Praxis oftmals Schwierigkeiten ein, die örtliche Zuständigkeit ad hoc und eindeutig zu bestimmen. Weiterer Regelungsinhalt ist darüber hinaus die Begründung der vorläufigen Leistungspflicht im Falle der Untätigkeit eines an sich zuständigen örtlichen Trägers. § 86d findet nur dann vorrangig vor § 43 SGB I Anwendung, wenn es allein um die örtliche Zuständigkeit geht (BVerwG, Urteil v 11.8.2005, 5 C 18/04; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 86d Rz. 19). Die Vorschrift findet keine Anwendung in Fällen, in denen die sachliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der sachlich zuständige Träger – aus welchen Gründen auch immer – nicht tätig wird, beispielsweise bei Streitigkeiten mit dem überörtlichen Jugendhilfeträger. Dieser ausschließlich zum Zwecke der Feststellung der örtlichen Zuständigkeit bzw. "Überbrückung" einer Untätigkeit geschaffenen Auffangnorm kann insbesondere auch kein auf die sachliche Zuständigkeit übertragbarer Rechtsgedanke entnommen werden (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil v. 11.8.2005, 5 C 18/04). Letztlich dürfte in derartigen Streitfällen der vom Leistungsberechtigten nach § 43 SGB I zuerst mit seinem Leistungsbegehren angegangene Leistungsträger in der Verpflichtung stehen, vorläufige Leistungen zu erbringen.
Rz. 3
§ 86 d ist vergleichbar mit § 86c, der keine eigenständige Zuständigkeitsregelung vorgibt, sondern vielmehr eine örtliche Zuständigkeit nach § 86, § 86a und § 86b voraussetzt.
2 Rechtspraxis
2.1 Fallkonstellationen (Varianten)
2.1.1 Die örtliche Zuständigkeit steht nicht fest (Variante 1)
Rz. 4
Soweit die Klärung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Voraussetzungen schwierig ist, wie z. B. die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltes (g.A.), und deshalb insgesamt einen längeren Zeitraum erfordert, verpflichtet § 86d Fallvariante 1 den örtlichen Träger zum vorläufigen Tätigwerden, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige bzw. bei Leistungen nach § 19 der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich (zum Begriff des tatsächlichen Aufenthaltes siehe Erläuterungen zu § 6) aufhält. Die Ermittlungspflicht (z. B. hinsichtlich des g.A.) ist strengen Maßstäben zu unterwerfen. Dies bedeutet, dass die zur Feststellung der örtlichen Zuständigkeit notwendigen Ermittlungen alle verfügbaren und geeigneten Mittel einschließen (müssen), die auf legale Art und Weise zum Einsatz gebracht werden können, um damit schnellstmöglich den örtlich zuständigen Jugendhilfeträger in seine Leistungsverantwortung zu bringen (vgl. hierzu auch Reisch, in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, § 86 Rz. 56). Dieses Ziel dürfte jeder vorläufig zur Leistung verpflichtete Träger allerdings schon aus Eigeninteresse verfolgen, insbesondere im Hinblick auf mögliche Bindungen personeller Kapazitäten bei an sich unter Umständen eigener örtlicher Unzuständigkeit.
2.1.2 Der zuständige Träger wird nicht tätig (Variante 2)
Rz. 5
Variante 2 ist im Unterschied zur 1. Variante in den Fällen einschlägig, in denen die örtliche Zuständigkeit zwar feststeht, aber der zuständige Jugendhilfeträger – aus welchen Gründen auch immer – nicht tätig wird. Dabei ist in der Mehrzahl derartiger Fälle eine pflichtwidrige Untätigkeit anzunehmen, die dadurch gekennzeichnet sein kann, dass der örtlich zuständige Träger entweder die Hilfeleistung gänzlich ablehnt, im unzureichenden Maße erbringt oder ihre Erbringung verzögert (vgl. hierzu auch VG Braunschweig, Urteil v. 10.2.2000, 3 A 3393/97). Ob der örtlich zuständige Jugendhilfeträger pflichtwidrig untätig bleibt, ist für die Anwendung des § 86d irrelevant. Ein solches Verhalten hat lediglich einen zusätzlichen "Verwaltungskostenzuschlag" bei der Kostenerstattung (§ 89c Abs. 2) zur Folge. Von einem pflichtwidrigen Verhalten i. S. d. § 89c Abs. 2 ist allerdings nicht schon dann auszugehen, wenn in einem schwierig zu beurteilenden Kompetenzkonflikt ein Jugendhilfeträger seine Zuständigkeit aus rechtlichen Erwägungen heraus verneint, die sich bei genauerer Prüfung als fehlerhaft darstellen (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 28.4.2015, 12 S 1274/14). So sei ein pflichtwidriges Verhalten etwa zu verneinen, wenn die Bestimmung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit rechtlich nicht einfach gelagert sei und diese aufgrund einer unübersichtlichen tatsächlichen Situation (letztlich nicht zutreffend) verneint werde. Hingegen könne die Pflichtwidrigkeit bejaht werden, wenn sich die Rechtsauffassung, die zur Verneinung der Zuständigkeit des Trägers führe, als ei...