0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift übernimmt einzelne Elemente aus § 3 JWG, modifiziert die dort normierten Grundsätze jedoch erheblich. Die Gefährdung des Kindeswohls wird nicht mehr als äußerste Grenze des Erziehungsrechts des Personensorgeberechtigten genannt. Dies entspricht § 1666 BGB, wonach allein das Familiengericht bei Gefährdung des Kindeswohls die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat. Eine der Nr. 3 entsprechende Regelung gab es zuvor nicht.
Rz. 1a
Durch Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) wurde mit Wirkung zum 10.6.2021 die Überschrift sowie Nr. 3 geändert und Nr. 4 angefügt.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift nennt 4 Vorgaben bzw. Grundanforderungen an die öffentliche Jugendhilfe.
- Die von den Personensorgeberechtigten bestimmte Grundrichtung der Erziehung ist zu beachten.
- Die wachsende Selbständigkeit der Kinder und Jugendlichen und ihre spezifischen Bedürfnisse und Eigenarten sind zu berücksichtigen.
- Geschlechtsspezifische Lebenslagen sind zu beachten und die Gleichberechtigung zu fördern.
- Die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen sind umzusetzen und vorhandene Barrieren abzubauen.
Die Regelungen enthalten Programmsätze, mit denen verfassungsrechtlich verbürgte Rechte der Kinder und Jugendlichen und ihrer Erziehungs- und Personensorgeberechtigten konkretisiert werden. Die Programmsätze gelten sowohl für die Gewährung von Leistungen (§ 2 Abs. 2) als auch für die hoheitlichen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe (§ 2 Abs. 3).
2 Rechtspraxis
2.1 Grundrichtung der Erziehung
Rz. 3
Der Begriff der Grundrichtung der Erziehung wurde bereits durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des RJWG v. 11.8.1961 (BGBl. I S. 1193) eingeführt. Gemeint sind die Erziehungstendenzen und die Erziehungsziele der Personensorgeberechtigten (zum Begriff der Erziehung und des Erziehungsziels vgl. § 1 Rz. 6 und 7). Diese gründen in der Lebensauffassung, die ihrerseits sehr unterschiedlich sein kann. Daher kann es keine allgemein gültige Grundrichtung der Erziehung geben. Die Grundrichtung der Erziehung beinhaltet religiöse, materialistische, politische und pädagogische Elemente. Sie entwickelt sich aus der Familie oder der Lebenshaltung des Erziehungsberechtigten heraus und kann sich an den Grundsätzen einer Religionsgemeinschaft, einer gesellschaftlichen Gruppierung oder Partei orientieren. Es kann eine fest gefügte Grundrichtung sichtbar werden, es können jedoch auch schwer identifizierbare Bruchstücke einer Grundhaltung der Personensorgeberechtigten vorhanden sein. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen die Personensorgeberechtigten sich einigen (vgl. § 1627 Abs. 1 BGB).
Rz. 4
Die von den Personensorgeberechtigten vorgegebene Grundrichtung der Erziehung ist grundsätzlich zu beachten. Unter mehreren Interpretationen des Kindeswohles ist die elterliche Interpretation gegenüber der staatlichen Interpretation vorrangig. Dies setzt natürlich voraus, dass eine solche überhaupt vorhanden ist. Der Programmsatz konkretisiert das Grundrecht aus Art 6 Abs. 1 und 2 GG. Der Vorrang der vorgegebenen Grundrichtung der Erziehung findet daher auch seine Grenzen in der Grundrechtsstellung der Kinder und Jugendlichen. Insbesondere darf die von den Personensorgeberechtigten vorgegebene Grundrichtung nicht das Kindeswohl gefährden. Sobald dies erkennbar ist, muss der Jugendhilfeträger aktiv werden. Allerdings darf er auch in einem solchen Fall nicht aus eigenem Recht das Personensorgerecht beschneiden. Vielmehr muss dann eine Entscheidung des Familiengerichts nach § 50 Abs. 3 bzw. des Vormundschaftsgerichts nach § 53 Abs. 3 herbeigeführt werden.
2.2 Bestimmung der religiösen Erziehung
Rz. 5
Die Bestimmung der religiösen Erziehung wird in Nr. 1 gesondert aufgeführt, obwohl oder gerade weil sie an sich vom Begriff der Grundrichtung der Erziehung mit umfasst wird. Im Gesetzeswortlaut wird hervorgehoben, dass auch die Rechte des Kindes oder des Jugendlichen beachtet werden müssen. Dies entspricht § 5 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung v. 15.7.1921 (RGBl. 1921 S. 939), zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes v. 12.9.1990 (BGBl. I S. 2002). Danach steht dem Kind nach der Vollendung des 14. Lebensjahres die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das 12. Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden. Zuvor bestimmen die Eltern gemeinsam über die religiöse Erziehung der Kinder (§ 1 KErzG) Im Konfliktfall entscheidet das Vormundschaftsgericht (§ 2 Abs. 2 KErzG). Die Bestimmungen sind auf die Erziehung der Kinder in einer nicht bekenntnismäßigen Weltanschauung entsprechend anzuwenden (§ 6 KErzG).
2.3 Berücksichtigung der wachsenden Selbständigkeit des Kindes oder Jugendlichen
Rz. 6
Nr. 2 lehnt sich an § 1626 Abs. 2 BGB an. Danach berücksichtigen die Eltern bei der Pflege und Erziehung die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewussten Handeln. Diese Verpflichtung der Eltern hat auch der Träger der öffentlichen Jugendhilfe...