Rz. 6
Die Sozialhilfe setzt ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder einer von ihm beauftragten Stelle bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Damit liegt der Sozialhilfe das Offizialprinzip und nicht etwa das Antragsprinzip zugrunde. Demgegenüber besteht in der Sozialversicherung grundsätzlich die Notwendigkeit eines Antrags, der beim zuständigen Leistungsträger zu stellen ist (§ 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I).
Rz. 7
Die Entbehrlichkeit eines Antrags bedeutet nicht, dass es dem Hilfebedürftigen verwehrt wäre, einen solchen Antrag zu stellen. § 16 SGB I wird nicht etwa von § 18 i. S. einer Spezialvorschrift nach § 37 SGB I verdrängt, im Gegenteil, der Hilfebedürftige kann gerade durch einen Antrag die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von den Leistungsvoraussetzungen herbeiführen (BVerwG, Urteil v. 8.7.1982, 5 C 96.81). § 16 SGB I gilt somit auch für die Sozialhilfe (vgl. BSG, Beschluss v. 13.2.2014, B 8 SO 58/13 B). Auch für Gundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel gilt § 18 SGB XII. Die Formulierung in § 18 Abs. 1, wonach die Sozialhilfe (erst) mit der Kenntnis vom Bedarf "mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung" einsetzt, steht der Anwendung des § 18 auf Leistungen des Vierten Kapitels nicht entgegen (BSG, Urteil v. 20.4.2016, B 8 SO 5/15 R Rz. 15). Mit der Formulierung soll lediglich verdeutlicht werden, dass Grundsicherungsleistungen im Gegensatz zu den übrigen Sozialhilfeleistungen antragsabhängig sind, Kenntnis allein also nicht genügt. Der Antrag, der nur eine "Türöffnerfunktion" für die besondere, im Verfahren vereinfachte und teilweise privilegierte Grundsicherungsleistung besitzt, stellt vor diesem Hintergrund eine besondere (zusätzliche) Form der Kenntnisverschaffung dar (BSG, Urteil v. 20.4.2016, a. a. O.). Soweit es für Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII lediglich an einem Antrag fehlt, besteht nach dem BSG, bei Vorliegen sämtlicher anderer Voraussetzungen, ein Anspruch nach dem Dritten Kapitel (BSG, Urteil v. 6.10.2022, B 8 SO 1/22 R Rz. 20).
Rz. 8
Daher sind nicht nur der Sozialhilfeträger selbst, sondern auch alle anderen Leistungsträger und Gemeinden sowie bei Personen, die sich im Ausland aufhalten, auch die amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Anträge auf Sozialhilfe entgegenzunehmen (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Leistungsträger in diesem Sinne sind nach der Legaldefinition des § 12 SGB I die in den §§ 18 bis 29 SGB I genannten Körperschaften, Anstalten und Behörden, also z. B. die Agenturen für Arbeit (§ 19 Abs. 2 SGB I), die Kranken- und Pflegekassen (§ 21 Abs. 2, § 21a Abs. 2 SGB I) oder die Versorgungsämter (§ 24 Abs. 2 SGB I).
Rz. 9
Ebenso findet die Vorschrift in § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I auf die Sozialhilfe unmittelbare Anwendung (vgl. auch BSG, Beschluss v. 13.2.2014, B 8 SO 58/13 B). Dies hatte – nach ursprünglich anderer Rechtsprechung – auch das BVerwG mit Urteil v. 18.5.1995 (5 C 1.93) anerkannt. Demnach sind Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten (§ 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I). Zur Anwendung von § 16 Abs. 2 Satz 2 vgl. Rz. 30.
Rz. 10
Die gesetzlichen Vorschriften für die Ausgestaltung und Erleichterung des Antragsverfahrens nach § 17 SGB I sind auch im Sozialhilferecht maßgebend. Daher sind die Sozialhilfeträger verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach gestaltet wird, insbesondere durch Verwendung allgemein verständlicher Antragsvordrucke (§ 17 Abs. 1 Nr. 3 SGB I). Die Verwaltungs- und Dienstgebäude müssen frei von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren sein und die Sozialleistungen in barrierefreien Räumen und Anlagen ausgeführt werden (§ 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB I).
Rz. 11
Die im Verhältnis zum Sozialversicherungsrecht erleichterten Anspruchsvoraussetzungen sind nicht dahin gehend misszuverstehen, dass der Leistungsempfänger von seinen Obliegenheiten im Verhältnis zum Sozialhilfeträger entlastet wäre. Vielmehr gelten die allgemeinen Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB I auch für ihn (zur Bedeutung dieser Vorschriften im Rahmen der Ermittlungspflichten vgl. Rz. 18). Das gilt in Sonderheit für die Verpflichtung, Änderungen in den Verhältnissen, z. B. einen bevorstehenden Umzug, mitzuteilen (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I). Ebenso besteht eine Obliegenheit des Hilfeempfängers, dem Sozialversicherungsträger einen Hilfebedarf rechtzeitig – am günstigsten in der Form des Leistungsantrags – zur Kenntnis zu bringen (zu Konsequenzen für den Fall, dass ein rechtzeitiger Antrag unterbleibt und der Betreffende sich die Leistung vor einer Entscheidung des Sozialhilfeträgers selbst oder durch Dritte verschafft, vgl. Rz. 40).
Rz. 12
Andererseits führt die Antragsunabhängigkeit nicht dazu, dass der Hilfebedürftige sich g...