Rz. 10
In § 2 Abs. 2 wird vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass Unterhaltspflichtige und andere Sozialleistungsträger ihre eigenen Verpflichtungen nicht deswegen verneinen bzw. verweigern dürfen, weil das SGB XII entsprechende Leistungen bzw. Leistungsmöglichkeiten vorsieht.
Dies gilt auch im Hinblick auf Ermessensleistungen anderer Leistungsträger (Grube/Wahrendorf, a. a. O., § 2 Rz. 39 ff.; Armborst, a. a. O., § 2 Rz. 32).
Klargestellt werden kann insoweit, dass der Nachranggrundsatz des § 2 die Ausübung anderer Rechtsvorschriften, die Ermessen eröffnen, regelt: Die Tatsache, dass das SGB XII für bestimmte Bereiche Leistungen vorsieht, ist etwa für vorrangig verpflichtete Sozialleistungsträger, die Ermessen auszuüben haben, kein Kriterium, das bei der Ermessensausübung herangezogen werden darf. Der Nachranggrundsatz schränkt das Ermessen ein (Dauber, in: Mergler/Zink, a. a. O., § 2 Rz. 31 m. w. N.).
Speziell im Verhältnis zu Unterhaltspflichtigen muss der Sozialhilfeträger aber immer beachten, welche Grundsatzentscheidungen der Gesetzgeber in § 94 getroffen hat (z. B. für minderjährige Schwangere). Es ist dem Sozialhilfeträger mithin verwehrt, durch einen Verweis auf § 2 Abs. 2 die an anderer Stelle des SGB XII geregelten Grundsatzentscheidungen zu unterlaufen bzw. zu umgehen.
Während in § 2 Abs. 2 Satz 2 BSHG ausdrücklich auf Rechtsvorschriften abgestellt wurde, auf die kein Anspruch bestand – sog. Ermessensentscheidungen –, fehlt dieser Satzteil in der neuen Regelung. Nach der alten Regelung war klar, dass freiwillige Leistungen nicht von § 2 Abs. 2 Satz 2 BSHG umfasst waren. Dies könnte möglicherweise jetzt anders gesehen werden. Beispielsweise besteht auf Leistungen der Bundesstiftung "Mutter und Kind – Schutz des ungeborenen Lebens" nach wie vor kein Rechtsanspruch. Wenn eine betroffene Schwangere in der Vergangenheit Leistungen dieser Stiftung nicht in Anspruch nahm bzw. nicht erhielt, dann hatte das den Sozialhilfeträger nicht zu interessieren (leider war die Praxis hier auch anders). Jetzt könnte hier durch die geänderte Fassung der Vorschrift möglicherweise versucht werden, auch freiwillige Leistungen, die in Gesetzen oder entsprechenden Regelungen fixiert sind, in den Anwendungsbereich einzubeziehen. Mancher Sozialhilfeträger könnte sich nunmehr aufgefordert sehen, seine eigene Leistungsbereitschaft davon abhängig zu machen, das ein Leistungsberechtigter zuvor auch erst einmal versucht, freiwillige Leistungen von Seiten Dritter einzufordern und dies auch nachzuweisen, bevor das Sozialamt überhaupt zahlt. Würde in solchen Fällen eine freiwillige Leistung erfolgen, dann wäre dies für den Sozialhilfeträger anschließend der willkommene Grund, eine Sozialhilfeleistung wegen einer Bedarfsdeckung zu verweigern.
Bedenkt man, dass der Grundsatz des Förderns und Forderns und die damit verbundene gestiegene Verpflichtung zur Selbsthilfe mit Einführung des SGB XII auch für die Sozialhilfegewährung beachtlich geworden sind, wird man von hilfesuchenden Personen verlangen können, dass sie problemlos zu stellende Anträge auch auf freiwillige Leistungen stellen müssen. Sozialhilfeträger, die die vorstehend benannte Praxis anwenden, wird man also nicht mehr so leicht einer rechtswidrigen Praxis bezichtigen können, wie dies vor Geltung des SGB XII der Fall war. Allerdings gilt nach wie vor, dass der Sozialhilfeträger den einzelnen Hilfesuchenden und seine konkrete Notlage in den Blick nehmen muss – so wie es in § 9 klar und eindeutig geregelt ist. Dies kann dann dazu führen, dass ein in einem Fall zumutbares Antragsbegehren in einem anderen Fall nicht zumutbar ist.
Rz. 11
Da die Gesetzesbegründung zum Anlass dieser Änderung schweigt, wird wohl die Rechtsprechung zu klären haben, wie weit die Anwendung der Vorschrift jetzt reicht und ob tatsächlich die Inanspruchnahme von freiwilligen Leistungen seitens Dritter ein zwingender Schritt ist oder ob es bei der bisher schon im BSHG vertretenen Ansicht bleibt.
Eindeutig ist aber nach wie vor, dass von anderen Sozialleistungsträgern aufgrund von Ermessensregelungen möglicherweise zu gewährende Leistungen nicht mit Blick auf eventuelle Sozialhilfeleistungen verweigert werden dürfen. Es gilt allerdings auch hier das oben bereits Ausgeführte: Der Sozialhilfeträger darf den Konflikt zwischen seiner Auffassung und der Leistungsgewährung durch dritte Stellen nicht dadurch zulasten eines Hilfesuchenden "lösen", dass er die eigene Leistung wegen eines angeblich bestehenden Vorrangs anderer Leistungen unterlässt. Wenn der Bedarf aktuell nicht anders gedeckt werden kann, dann muss der Sozialhilfeträger in Vorleistung gehen und anschließend z. B. aus übergegangenem Recht mittels eines Rechtsstreites mit dem Dritten für Klarheit sorgen (Armborst, a. a. O., § 2 Rz. 33 m. w. N.).