Rz. 14
Aus dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 ergibt sich, dass eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers nicht besteht, wenn der Hilfesuchende sich durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder Leistungen von anderen, insbesondere von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. § 2 Abs. 1 stellt allerdings keine isolierte Ausschlussnorm dar, was sich insbesondere aus der Systematik des SGB XII ergibt (vgl. BSG, Urteil v. 29.9.2009, B 8 SO 23/08 R). § 82 konkretisiert das allgemeine Nachrangprinzip in Bezug auf den Einkommenseinsatz und regelt, in welchem Rahmen ein Hilfesuchender vorhandenes Einkommen einsetzen oder ausnahmsweise nicht einsetzen muss.
Der Einkommensbegriff des SGB XII entspricht inhaltlich weitgehend dem des SGB II. Abweichungen ergeben sich insbesondere bei den vom Einkommen abzusetzenden Beträgen sowie bei den nach § 11 Abs. 3 SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigenden Einkünften (vgl. Kiss, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 82 Rz. 6a).
Rz. 15
Bei der Leistungsberechnung ist das Einkommen des Hilfesuchenden sowie der in §§ 19 Abs. 3, 20, 27 Abs. 2 und 43 Abs. 1 genannten Personen zu berücksichtigen, also das Einkommen des nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartners, des Partners einer eheähnlichen oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft und, wenn der Hilfesuchende minderjährig und unverheiratet ist, auch das Vermögen der Eltern (Einsatzgemeinschaft). Dies gilt auch für die Leistungen des § 74 (Übernahme von Bestattungskosten, vgl. BSG, Urteil v. 4.4.2019, B 8 SO 10/18 R). Für lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften gilt dies durch die Inbezugnahme des § 20 Satz 1 auch für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bereits für Zeiträume vor der Anpassung des § 43 Abs. 1 Satz 2 zum 1.1.2011 (vgl. BSG, Urteil v. 18.7.2019, B 8 SO 6/18 R). Der Gesetzgeber geht typisierend davon aus, dass im Rahmen einer Einsatzgemeinschaft die Personen einander auch tatsächlich die entsprechenden Unterstützungsleistungen erbringen. Werden Unterstützungsleitungen entgegen dieser Annahme nicht erbracht, kann eine sog. unechte Sozialhilfe nach § 19 Abs. 5 gegen Ersatz der Aufwendungen zu leisten sein (vgl. BSG, Urteil v. 6.12.2018, B 8 SO 2/17 R). Für Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel wird nach § 39 widerlegbar vermutet, dass in einer Haushaltsgemeinschaft lebende Personen gemeinsam wirtschaften und dass die nachfragende Person von den anderen Personen der Haushaltsgemeinschaft Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann (vgl. Komm. zu § 39).
2.1 Einkommensbegriff
Rz. 16
Abs. 1 regelt im Wortlaut lediglich, dass alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit den anschließend genannten Ausnahmen zum Einkommen gehören. Die Vorschrift enthält jedoch keine Definition des Einkommensbegriffs. Nach dem durch die Rechtsprechung entwickelten weiten sozialhilferechtlichen Einkommensbegriff umfasst Einkommen alles, was dem Leistungsberechtigten – ohne Rücksicht auf ihre Art und auf die Tatsache, ob sie laufend oder einmalig anfallen – im Bedarfszeitraum zufließt (st. Rechtsprechung, vgl. u. a. BSG, Urteil v. 8.2.2007, B 9b SO 5/06 R).
2.1.1 Abgrenzung von Einkommen und Vermögen
Rz. 17
Ebenso wenig wie der Begriff des Einkommens, ist auch der Begriff des Vermögens nicht in § 90 definiert. Die Zuordnung als Einkommen oder Vermögen ist jedoch deshalb höchst bedeutsam, weil Geldbeträge auf den Sozialhilfebedarf unterschiedlich angerechnet werden, je nachdem, ob es sich dabei um Einkommen oder um Vermögen handelt.
Früher stellte das BVerwG (zum BSHG: Urteile v. 24.4.1968, V C 62.67, v. 28.3.1974, V C 29.73, sowie v. 4.6.1992, 5 C 82/88) auf den Zweck, dem die Einkünfte dienen sollten (Zweckidentität), sowie auf den Zeitraum ab, innerhalb dessen die Einkünfte den Bedarf decken sollten (Zeitraumidentität). Nach dieser sog. Identitätstheorie waren alle Einkünfte im sozialhilferechtlichen Sinne Einkommen, die dazu bestimmt waren (Zweck), den Lebensunterhalt während eines bestimmten Bedarfszeitraumes (i. d. R. ein Kalendermonat) zu sichern (maßgeblicher Zeitraum). Einkünfte, bei denen eine solche Zweckbestimmung fehlte oder nicht festgestellt werden konnte, gehörten zum Vermögen.
Rz. 18
Diese Abgrenzung ist jedoch in den Fallkonstellationen wenig brauchbar, in denen Gelder innerhalb eines bestimmten Bedarfszeitraumes nachgezahlt werden, die nicht zur Bedarfsdeckung in diesem Zeitraum bestimmt sind, oder wenn Schadensersatz geleistet wird, bei dem die Zuordnung zum aktuellen Bedarfszeitraum ebenfalls nicht möglich ist. Nach der Identitätstheorie würde es sich dabei stets um Vermögen handeln. Dies wäre indes bei der Nachzahlung von Geldbeträgen, die einem zurückliegenden Kalendermonat zuzuordnen sind, nicht interessengerecht und würde Manipulationsmöglichkeiten eröffnen. Deshalb hat das BVerwG die Identitätstheorie zugunsten der modifizierten Zuflusstheorie aufgegeben (vgl. zum BSHG: Urteile v. 18.2.1999, 5 C...