Rz. 76
Abs. 3 sieht weitere Absetzungen von dem Einkommen vor, das nach Abs. 2 bereinigt worden ist. Nach Abs. 3 Satz 1 ist bei der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ferner ein Betrag in Höhe von 30 % des (Brutto-)Einkommens aus selbständiger und nichtselbständiger Tätigkeit der Leistungsberechtigten abzusetzen, höchstens jedoch 50 % der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 (absolute Deckelungsgrenze). Im Unterschied zum früheren § 76 Abs. 2a BSHG kommt durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt eine Einkommensanrechnung nach Abs. 3 im Wesentlichen nur noch für Tätigkeiten von weniger als drei Stunden täglich in Betracht. Hierfür ist eine einfache und praktikable Anrechnung sinnvoll, die durch die vorgesehene prozentuale und insbesondere einheitliche Anrechnung erreicht wird (vgl. BT-Drs. 15/1514 S. 65).
Rz. 77
Bei leistungsberechtigten Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX ist von dem Werkstatteinkommen (Entgelt) ein Achtel der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 zuzüglich 50 % (bis zum 31.12.2017 25 %) des diesen Betrag übersteigenden Entgelts abzusetzen (Abs. 3 Satz 2).
Rz. 78
Abs. 3 Satz 3 ermöglicht dem Sozialhilfeträger "in begründeten Fällen" (unbestimmter Rechtsbegriff) flexibel zu handeln, z. B. bei dem Erfordernis eines besonderen Anreizes oder (bis zur Einführung von Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 zum 1.1.2023) bei Ferienjobs von Schülerinnen und Schülern (BT-Drs. 15/1514 S. 65 zu § 77; vgl. zu Ferienjobs von Schülerinnen und Schülern BSG, Urteil v. 14.4.2011, B 8 SO 12/09 R; vgl. zu Einnahmen von Schülerinnen und Schülern allgemein- oder berufsbildender Schulen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, aus Erwerbstätigkeiten, die in den Schulferien für höchstens 4 Wochen je Kalenderjahr ausgeübt werden § 1 Abs. 4 Satz 1 Alg II-VO, und BSG, Urteil v. 23.3.2010, B 8 SO 15/08 R). Die Vorschrift findet nicht nur bei Einkommen aus einer selbständigen oder nichtselbständigen Tätigkeit Anwendung. Es handelt sich um eine Öffnungsklausel oder einen Auffangtatbestand (BSG, Urteile v. 23.3.2010, B 8 SO 17/09 R sowie B 8 SO 15/08 R, und v. 25.4.2018, B 8 SO 24/16), die es dem Sozialhilfeträger ermöglichen sollen, von einer Einkommensanrechnung ganz oder teilweise abzusehen, um Ungleichbehandlungen und besondere Härten zu vermeiden. Die Vorschrift ist als generelle Härteklausel für alle denkbaren Einkommen zu klassifizieren (BSG, Urteil v. 30.6.2016, B 8 SO 3/15 R). Die Norm räumt dem Sozialhilfeträger Ermessen ein, das er pflichtgemäß auszuüben hat (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Die sozialpolitische Funktion der Vorschrift besteht darin, einen Anreiz zu schaffen, Arbeit aufzunehmen, die Arbeitsleistung zu steigern und den Arbeitswillen zu erhalten (BSG, Urteile v. 23.3.2010, B 8 SO 17/09 R sowie B 8 SO 15/08 R; v. 14.4.2011, B 8 SO 12/09 R). Ob eine Erhöhung des Freibetrages insbesondere als zusätzliche Motivation bei schweren gesundheitlichen oder persönlichen Beeinträchtigungen dienen soll, hat das Bundessozialgericht ausdrücklich offen gelassen (vgl. BSG, Urteil v. 14.4.2011, B 8 SO 12/09 R).
Dass der Hilfesuchende die Regelaltersgrenze erreicht hat oder voll erwerbsgemindert ist, rechtfertigt allein keinen erhöhten Freibetrag für Einkünfte aus einer ausgeübten Tätigkeit, weil diese Umstände den Regelfall nach § 82 Abs. 3 Satz 1 bilden (BSG, Urteile v. 14.4.2011, B 8 SO 12/09 R, und v. 25.4.2018, B 8 SO 24/16 R). Abs. 3 Satz 3 greift jedoch erst ein, wenn ein atypischer Fall gegeben ist. Ein solcher "begründeter Fall" liegt z. B. beim Bezug von Ausbildungsgeld nach § 104 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 107 SGB III während einer Maßnahme im Eingangsverfahren oder im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für Behinderte vor. Denn das Ausbildungsgeld hat wie das Werkstatteinkommen bezogen auf die berufliche Bildung Anreizfunktion (BSG, Urteile v. 26.9.1990, 9b/7 RAr 100/89; v. 23.3.2010, B 8 SO 15/08 R). Es wäre aber ein Wertungswiderspruch, wenn das Werkstatteinkommen (gemäß Abs. 2 Nr. 5 – heute § 59 Abs. 2 SGB IX – und Abs. 3 Satz 2) jedenfalls in Höhe des Ausbildungsgeldes anrechnungsfrei bliebe, während das Ausbildungsgeld in einer weitgehend identischen Situation ganz oder teilweise auf die Sozialhilfe (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) angerechnet würde (vgl. zum Ganzen ausführlich: BSG, Urteil v. 23.3.2010, B 8 SO 15/08 R).
Rz. 79
Der Freibetrag des Abs. 3 umfasst – anders als die Parallelvorschrift des § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II – keinen allgemeinen Grundfreibetrag von 100,00 EUR bei Erwerbstätigkeit, sondern nur im Einzelnen nachzuweisende Abzugsbeträge und führt daher ggf. gegenüber dem SGB II zu geringeren Absetzbeträgen. Dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 8 SO 24/16 R). Die Bezieher von SGB II-Leistungen unterscheiden sich von Grundsicherungsleistungsbeziehern wesent...