Rz. 9
§ 10 befasst sich ausschließlich mit den zusätzlichen Rechten von behinderten/von Behinderung bedrohter Menschen. Die Definition der Behinderung erfolgt durch § 2 SGB IX und seit März 2009 zusätzlich durch Art. 1 Abs. 2 BRK. Danach sind Menschen behindert, wenn sie langfristige
- körperliche,
- seelische,
- geistige
Beeinträchtigungen oder
haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft hindern können. Während bis zum Inkrafttreten des BRK für die Definition des Begriffs "Behinderung" das Vorliegen von
- Funktionsbeeinträchtigungen (= Störung der Fähigkeiten der betroffenen Person zur Ausführung zweckgebundener Handlungen; Funktionsbeeinträchtigung oder -mängel aufgrund von Schädigungen, die typische Alltagssituationen behindern oder unmöglich machen) bzw.
- Partizipationsstörungen (= Einschränkung bei der Teilhabe an öffentlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Aufgaben, Angelegenheiten und Errungenschaften)
unter Berücksichtigung von umweltbezogenen und personenbezogenen Kontextfaktoren (gesamter Lebenshintergrund wie Religion, Einstellungen, Wohnverhältnisse, allein oder zusammen mit anderen Familienangehörigen lebend, Aufzug im Haus etc.) maßgeblich waren, erweitert Art. 1 Abs. 2 BRK den Personenkreis um den Teil der gleichberechtigten Teilhabe. Behindert ist jetzt derjenige, der nicht oder nicht mehr gleichberechtigt mit anderen uneingeschränkt und wirksam am beruflichen oder sonstigen gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Ziel ist die möglichst
- uneingeschränkte Partizipation (= aktives Teilnehmen an allen gewünschten Lebenssituationen wie nicht behinderte Menschen) bzw.
- vollständige Inklusion (= optimiertes und erweitertes Verständnis von Integration).
Unterdurchschnittliche Begabung, Unkonzentriertheit, Labilität und Entwicklungsrückstand gelten nicht als Behinderung i. S. d. SGB. Gleichwohl sieht § 30 SGB IX für Kinder mit diesen Auffälligkeiten entsprechende Leistungen vor, um die Schulfähigkeit zu erreichen.
Die Ursache der Behinderung und der Zeitpunkt der Entstehung der Behinderung spielen keine Rolle. Auch ist es für die Beurteilung einer Behinderung unschädlich, wenn die Schädigungen durch Fremdeinwirkung entstanden sind oder selbst verschuldet wurden.
Rz. 10
Entgegen der Vorschrift des § 2 Abs. 1 SGB IX spielt das Alter für die Beurteilung der Behinderung keine Rolle mehr. Somit können je nach Lebenssituation auch alte Menschen behindert sein, die an sich gesund sind, aber aufgrund der Tatsache, dass sie im 5. Stock eines Hauses ohne Aufzug leben und somit ihre Wohnung nicht mehr verlassen können, in Bezug auf eine gleichberechtigte und gleichumfängliche Partizipation gestört sind.
Rz. 11
Eine Behinderung liegt nach Art. 1 Abs. 2 BRK allerdings nur dann vor, wenn sie langfristig ist. Dieses ist in Anlehnung an § 2 Abs. 1 SGB IX nur dann der Fall, wenn die Partizipationsstörungen mindestens 6 Monate andauern. Für die Berechnung des Zeitraums werden vergangene und (ohne die Einwirkung von Teilhabeleistungen) zukünftig zu erwartende Zeiten der ununterbrochen andauernden Teilhabestörung zusammengezählt.
Rz. 12
Wird eine Behinderung festgestellt, kann der Betroffene die aus dem SGB IX herzuleitenden Teilhaberechte beanspruchen. Unabhängig davon können rehabilitationsträgerspezifische Rechte (z. B. § 40 SGB V, § 15 SGB VI) medizinische Rehabilitationsleistungen vorsehen, wenn die Mindestdauer der "Aktivitäts-/Partizipationsstörung" nicht erreicht wird. Im Einzelfall können deshalb z. B. entsprechende Interventionsleistungen in Form von medizinischen Rehabilitationsleistungen geeignet sein, um die Arbeitsunfähigkeit frühzeitig zu beenden (z. B. bei einem komplizierten Beinbruch, der nach 5 Monaten wieder behoben ist und den Betroffenen dann nicht mehr in seinem "beruflichen und/oder gesellschaftlichen Leben" einschränkt).
Rz. 13
Eine Behinderung i. S. d. Teils 1 des SGB IX (§§ 1 bis 67) liegt bereits dann vor, wenn die oben aufgeführten Partizipationsstörungen bzw. Barrieren noch nicht vorliegen, aber in naher oder ferner Zukunft drohen. Von "Behinderung bedroht" ist ein Mensch insbesondere dann, sobald aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse die konkrete Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich bei entsprechender Verschlimmerung der Krankheit in naher oder ferner Zukunft – ohne SGB IX-Leistungen – Teilhabebarrieren/Partizipationsstörungen einstellen, die länger als 6 Monate anhalten werden. Die Einbeziehung von drohenden Behinderungen in das Leistungsspektrum der Rehabilitationsträger macht Sinn, da durch präventive Teilhabeleistungen der Entwicklung einer Behinderung oft entgegengewirkt werden kann.
Näheres zum Behindertenbegriff kann der Komm. zu § 2 SGB IX entnommen werden.
Anzumerken ist, dass der Grad der Behinderung für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (vgl. § 5 SGB IX) ohne Bedeutu...