Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Harn- und Stuhlinkontinenz. Nachteilsausgleich aG. Rechtsgrundlage. Versorgungsmedizin-Verordnung. Versorgungsmedizinische Grundsätze

 

Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" sind wegen einer Harn- und Stuhlinkontinenz nicht gegeben, wenn eine praktisch bestehende Bindung an das Haus durch Versorgung mit Inkontinenzartikeln zumutbar verhindert wird und der Behinderte somit nicht generell vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen ist (Fortführung LSG Stuttgart vom 18.3.2005 - L 8 SB 2366/03).

 

Orientierungssatz

Die Regelungen der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung (juris: VersMedV) zum Merkzeichen "aG" sind mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und unwirksam. Seit 1.1.2009 ist an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, § 30 Abs 1 und § 35 Abs 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs 1 S 5 SGB 9 gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleich "aG" durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB 9 geregelten Nachteilsausgleiche verweist, noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB 9 vorhanden. Der Senat geht nach ständiger Rechtsprechung (vgl Urteil vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08) insoweit von einer Teilnichtigkeit der VersMedV aus, da der Teil der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen - als Anhang zu § 2 Teil der Verordnung - durch die Unwirksamkeit der genannten Regelungen nicht berührt wird und auch im übrigen die Regelungen der VersMedV nicht betroffen sind.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23.03.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) außergewöhnliche Gehbehinderung (“aG„) und Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (“RF„) vorliegen.

Bei dem am … 1933 geborenen Kläger stellte das Landratsamt K. - Amt für Versorgung und Rehabilitation - (LRA) mit Bescheid vom 09.12.2005 wegen degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Spinalkanalstenose, Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke und beider Kniegelenke (Teil-GdB 50), Diabetes mellitus (Teil-GdB 30), Bluthochdruck, Krampfadern, Refluxkrankheit der Speiseröhre und Sehminderung beidseits (Teil-GdB jeweils 10) den GdB mit 60 neu sowie das Merkzeichen “G„ weiterhin fest. Ein hiergegen gerichteter Widerspruch des Klägers blieb mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2006 erfolglos. Im anschließenden Klageverfahren (Az. S 10 SB 976/06) beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) schlossen die Beteiligten unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Teilverlustes des Dickdarms, Dickdarmerkrankung in Heilungsbewährung (Teil-GdB 80) einen Vergleich dahin, beim Kläger den GdB mit 100 ab 01.07.2006 neu sowie das Merkzeichen “G„ weiterhin festzustellen, der mit Bescheid vom 10.04.2007 vom LRA ausgeführt wurde.

Am 14.08.2007 beantragte der Kläger die Feststellung der Merkzeichen “aG„ und “RF„. Das LRA nahm den Entlassungsbericht der R. Kliniken D. vom 17.10.2006, den radiologischen Befundbericht von Dr. S. vom 13.03.2007 sowie Berichte der Urologischen Universitätsklinik H. vom 16.08.2007 und vom 26.07.2007 zu den Akten. Nach versorgungsärztlicher Auswertung (gutachtliche Stellungnahme Dr. B. vom 24.09.2007, der unter zusätzlicher Berücksichtigung einer Erkrankung der Prostata mit einem Teil-GdB von 60 den GdB weiterhin mit 100 vorschlug und die Voraussetzungen für die Merkzeichen “aG„ und “RF„ verneinte) stellte das LRA beim Kläger mit Bescheid vom 26.09.2007 (unter Aufhebung des Bescheides vom 10.04.2007) den GdB mit 100 und das Merkzeichen “G„ weiterhin fest und lehnte die Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen “aG„ und “RF„ ab.

Gegen den Bescheid vom 26.09.2007 legte der Kläger am 01.10.2007 Widerspruch ein, der vom Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchsbesche...

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