Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunfts- und Heizkosten. keine Anwendung von § 22 Abs 1 S 2 SGB 2 bei Umzug über die Grenzen des Vergleichsraums. Freizügigkeit. Angemessenheit. Einstweilige Anordnung
Leitsatz (amtlich)
Wenn bei einem Umzug die Grenze des Vergleichsraumes (iS der Rechtsprechung des BSG) überschritten wird, findet § 22 Abs 1 S 2 SGB 2 keine Anwendung. In diesem Fall kommt es dann auch nicht darauf an, ob der Umzug erforderlich war und eine Zusicherung nach § 22 Abs 2 SGB 2 zu erteilen gewesen wäre oder nicht.
Normenkette
SGB II § 22 Abs. 1 S. 2; GG Art. 11 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juni 2010 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner erstattet dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten im Beschwerdeverfahren.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg.
Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde gegen die einstweilige Anordnung im Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen (SG) vom 25.06.2010 ist zulässig; insbesondere ist sie gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG statthaft. Sie ist jedoch unbegründet.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Gewährung von höheren Leistungen für die Unterkunft (KdU) im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nach erfolgtem Umzug des Antragstellers von 78176 Blumberg nach 78628 Rottweil (50 km), die dieser statt in Höhe der bisherigen Kaltmiete von 100 € in Höhe von nun fällig werdenden 270 € monatlich begehrt.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustandes geht (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (vgl. z.B. Beschlüsse Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (vgl. etwa Beschlüsse Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 6. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - ≪beide juris≫ jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das SG den Antragsgegner im Ergebnis zu Recht verpflichtet, zeitlich begrenzt vorläufig monatlich weitere Leistungen in Höhe von 170 € zu gewähren. Allerdings kann die Entscheidung entgegen der Ansicht des SG nicht auf § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II und die Erforderlichkeit des Umzugs - hier aus familiären Gründen zur Gewährleistung des Umgangsrechts des Vaters mit seinen Kindern, die bei der getrennt lebenden Mutter der Kinder in Rottweil wohnen - gestützt werden. Denn die Vorschrift ist vorliegend nicht anwendbar.
Der Umzug von einer Stadt in eine andere, hier von Bl. in das 50 Kilometer entfernt liegende R., dürfte nämlich über die Grenze des Vergleichsraums iS der Rechtsprechung des BSG hinaus vorgenommen worden sein. Nach den Kriterien, die das Bundessozialg...