Entscheidungsstichwort (Thema)
Geltungszeitraum. Grundsatz "Beratung vor Regress". Verordnungsregress. Wirtschaftlichkeitsprüfung
Orientierungssatz
Gem § 106 Abs 5e S 7 SGB 5 gilt der Grundsatz “Beratung vor Regress„ auch für Verfahren, die am 31.12. 2011 noch nicht abgeschlossen waren. Der Gesetzgeber wollte mit § 106 Abs 5e S 7 SGB 5 nur klarstellen, dass der in § 106 Abs 5e SGB 5 für die Richtgrößenprüfung verankerte Grundsatz “Beratung vor Regress„ auch für bei Inkrafttreten des § 106 Abs 5e SGB 5 zum 1.1.2012 noch nicht abgeschlossene Richtgrößenprüfungen gelten soll. Dabei wird man unter “Verfahren„ iS des § 106 Abs 5e S 7 SGB 5 das Verwaltungsverfahren und nicht etwa ein sich daran anschließendes Gerichtsverfahren und hinsichtlich des Verwaltungsverfahrens auch das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss und nicht nur das vor der Prüfungsstelle zu verstehen haben.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 10.12.2012 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Widerspruchsbescheid des Antragsgegners vom 19.9.2012 wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 2.575,88 € festgesetzt.
Gründe
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine in einem Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren (Richtgrößenprüfung) verfügte Honorarrückforderung (Heilmittelregress).
Der Antragsteller nimmt seit 1.1.1990 als Orthopäde mit Vertragsarztsitz in S. an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Bezirksprüfungsstelle S. der Gemeinsamen Prüfungseinrichtungen B.-W. (Prüfungsstelle) führte beim Antragsteller für das Jahr 2008 eine Wirtschaftlichkeitsprüfung hinsichtlich der Verordnung von Heilmitteln aufgrund der Überschreitung des individuellen Richtgrößenvolumens des Klägers durch.
Mit Anhörungsschreiben vom 11.11.2010 teilte die Prüfungsstelle dem Antragsteller mit, man habe festgestellt, dass sein Heilmittelvolumen im Jahr 2008 sein individuelles Richtgrößenvolumen um mehr als 15% übersteige, ohne dass dies, soweit ersichtlich, durch Praxisbesonderheiten begründet sei. Die Heilmittelverordnungskosten hätten (nach Bereinigung um anerkannte Mehrkosten) insgesamt 316.651,10 € betragen und das Richtgrößenvolumen des Antragstellers (234.247,73 €) um 35,18% überschritten.
Unter dem 8.12.2010 trug der Antragsteller vor, ab 2008 habe die Zahl ambulant (bspw. an Kniegelenken und Sprunggelenken) operierter Patienten deutlich zugenommen. Diese hätten intensiv nachbehandelt werden müssen, u.a. mit Kontrolluntersuchungen, physikalischen Maßnahmen und Medikamenten, um baldmöglichst die Beweglichkeit und Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Dadurch würden Kosten für stationäre Behandlungen eingespart. Hinzukämen Patienten, die nach nur kurzer stationärer Behandlung eine Rehabilitationsmaßnahme meist aus beruflichen Gründen nicht durchführen könnten und ambulant (weiter-)behandelt werden müssten. Außerdem habe das Unfallgeschehen (Stürze, Stauchungen, Zerrungen) besonders bei älteren Patienten, die den Hauptteil seiner Patientenschaft ausmachten, deutlich zugenommen. Bei diesen bestehe nach Unfällen ein höherer Behandlungsbedarf als bei jungen Patienten. Er habe auch einen sehr großen Teil multimorbider Patienten, die häufig nicht medikamentös und deswegen physikalisch behandelt werden müssten.
Mit Schreiben vom 20.12.2010 unterbreitete die Prüfungsstelle dem Antragsteller ein Vergleichsangebot. Man habe einen Regress in Höhe von 23.841,55 € brutto bzw. 16.977,57 € beschlossen und biete an, diesen Betrag um die höchstzulässige Minderung von 20% zu ermäßigen (Regressbetrag 13.582,06 €). Der Antragsteller nahm das Vergleichsangebot nicht an.
Mit Prüfbescheid vom 20.12.2010 setzte die Prüfungsstelle gegen den Antragsteller einen Nettoregress i. H. v. 16.977,57 € fest. Zur Begründung führte sie aus, gem. § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 106 Abs. 5a und 84 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sei bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 15 % von Amts wegen eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführen (Auffälligkeitsprüfung). Grundlage sei die zwischen der Beigeladenen Nr. 1 und den Landesverbänden der Krankenkassen abgeschlossene Heilmittel-Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2008 vom 18.12.2007. Die danach für die Fachgruppe der Orthopäden maßgeblichen Richtgrößen (Mitglieder und Familienversicherte 43,06 €, Rentner 45,87 €) seien durch Rundschreiben vom 18.12.2007 bekannt gegeben worden. Man habe vorab verschiedene Praxisbesonderheiten ohne regelhafte Indikationsprüfung definiert. Die Auswahl umfasse Indikationsschlüssel, die indikationsbezogen selten seien und in der Regel Verordnungskosten verursachten, die zu einer Überschreitung der Richtgrößen führten. Die entsprechenden Indikationsschlüssel habe man als Filter 4 bezeichnet und die darauf entfallenden Kosten (2.522,50 €)...