Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirtschaftlichkeitsprüfung. Heilmittelregress. Konzeption des Grundsatzes "Beratung vor Regress". erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens

 

Orientierungssatz

1. Die Konzeption des § 106 Abs 5e SGB 5 mit dem zum 1.1.2012 neu eingeführten Grundsatz "Beratung vor Regress" sieht vor, dass der Arzt, der mit seinem Verordnungsverhalten die Richtgrößen überschreitet, - jetzt (ab 1.1.2012) - zuerst nach näherer Maßgabe des § 106 Abs 1a SGB 5 beraten werden muss. Ein Regress darf erst dann festgesetzt werden, wenn er in einem weiteren Prüfzeitraum nach erfolgter (oder abgelehnter) Beratung iS des § 106 Abs 5e SGB 5 iVm § 106 Abs 1a SGB 5 die Richtgrößen erneut überschreitet.

2. Als erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens iS des § 106 Abs 5e S 1 SGB 5 ist diejenige Überschreitung anzusehen, auf die erstmals die in der genannten Vorschrift geforderte Beratung stattfindet (vgl LSG Stuttgart vom 19.2.2013 - L 5 KA 222/13 ER-B = MedR 2013, 758).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 22.10.2014; Aktenzeichen B 6 KA 3/14 R)

 

Tenor

1. Der Widerspruchsbescheid vom 19. September 2012 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu trage haben.

3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine in einem Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren (Richtgrößenprüfung) verfügte Honorarrückforderung (Heilmittelregress) in Höhe von 10.303,54 €.

Der Kläger nimmt seit 1. Januar 1990 als Orthopäde mit Vertragsarztsitz in Stuttgart an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Bezirksprüfungsstelle Stuttgart der Gemeinsamen Prüfungseinrichtungen Baden-Württemberg (Prüfungsstelle) führte beim Kläger für das Jahr 2008 eine Wirtschaftlichkeitsprüfung hinsichtlich der Verordnung von Heilmitteln aufgrund der Überschreitung des individuellen Richtgrößenvolumens durch.

Mit Anhörungsschreiben vom 11. November 2010 teilte die Prüfungsstelle dem Kläger mit, man habe festgestellt, dass sein Heilmittelvolumen im Jahr 2008 sein individuelles Richtgrößenvolumen um mehr als 15% übersteige, ohne dass dies, soweit ersichtlich, durch Praxisbesonderheiten begründet sei. Die Heilmittelverordnungskosten hätten (nach Bereinigung um anerkannte Mehrkosten) insgesamt 316.651,10 € betragen und das Richtgrößenvolumen von 234.247,73 € um 35,18% überschritten.

Mit Schreiben vom 8. Dezember 2010 erklärte der Kläger, ab 2008 habe die Zahl ambulant (z.B. an Kniegelenken und Sprunggelenken) operierter Patienten deutlich zugenommen. Diese hätten intensiv nachbehandelt werden müssen, u.a. mit Kontrolluntersuchungen, physikalischen Maßnahmen und Medikamenten, um baldmöglichst die Beweglichkeit und Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Dadurch würden Kosten für stationäre Behandlungen eingespart. Hinzu kämen Patienten, die nach nur kurzer stationärer Behandlung eine Rehabilitationsmaßnahme meist aus beruflichen Gründen nicht durchführen könnten und ambulant (weiter-)behandelt werden müssten. Außerdem habe das Unfallgeschehen (Stürze, Stauchungen, Zerrungen) besonders bei älteren Patienten, die den Hauptteil seiner Patientenschaft ausmachten, deutlich zugenommen. Bei diesen bestehe nach Unfällen ein höherer Behandlungsbedarf als bei jungen Patienten. Er habe auch einen sehr großen Teil multimorbider Patienten, die häufig nicht medikamentös und deswegen physikalisch behandelt werden müssten.

Mit Schreiben vom 20. Dezember 2010 unterbreitete die Prüfungsstelle dem Kläger ein Vergleichsangebot. Man habe einen Regress in Höhe von 23.841,55 € brutto bzw. 16.977,57 € netto beschlossen und biete an, diesen Betrag um die höchstzulässige Minderung von 20% zu ermäßigen (Regressbetrag 13.582,06 €). Der Kläger nahm das Vergleichsangebot nicht an.

Mit Prüfbescheid vom 20. Dezember 2010 setzte die Prüfungsstelle gegen den Kläger einen Nettoregress i. H. v. 16.977,57 € fest. Zur Begründung führte sie aus, gemäß § 106 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 i. V. m. § 106 Absatz 5a und 84 Absatz 6 SGB V sei bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 15 % von Amts wegen eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführen (Auffälligkeitsprüfung). Grundlage sei die zwischen der Beigeladenen Nummer 1 und den Landesverbänden der Krankenkassen abgeschlossene Heilmittel-Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2008 vom 18. Dezember 2007. Die danach für die Fachgruppe der Orthopäden maßgeblichen Richtgrößen (Mitglieder und Familienversicherte: 43,06 €, Rentner: 45,87 €) seien durch Rundschreiben vom 18. Dezember 2007 bekannt gegeben worden. Man habe vorab verschiedene Praxisbesonderheiten ohne regelhafte Indikationsprüfung definiert. Die Auswahl umfasse als Filter 4 bezeichnete Indikationsschlüssel, die indikationsbezogen selten seien und in der Regel Verordnungskosten verursachten, die zu einer Überschreitung der Richtgrößen führten. Die darauf entfallenden Kosten (2.522,50 €) seien zu 100 % als Praxisbesonderheit berücksichtigt worden. Außerdem habe man P...

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