Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für bulgarische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Zweifel an der Europarechtskonformität. vorläufige Leistungen im Rahmen der Folgenabwägung
Leitsatz (amtlich)
Zum Leistungsausschluss von bulgarischen Staatsangehörigen nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2, die nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche haben. Steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht über die Vereinbarkeit der Norm mit Europarecht abschließend entschieden werden kann, ist als Grundlage der Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eine Folgenabwägung vorzunehmen.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2 Nr. 2, Abs. 3, § 8 Abs. 1-2; VO (EG) 883/2004 Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Abs. 3, Art. 4, 70, 91; VO (EG) 883/2004 Anh. X; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1; EFA Art. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 19.03.2013 wird zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre außergerichtlichen Kosten auch des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
3. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin J. beigeordnet.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die 1982 geborene Antragstellerin Ziffer 1, bulgarische Staatsangehörige, hält sich seit dem 01.09.2012 zusammen mit ihren beiden am und geborenen Kindern (Antragsteller Ziffer 2 und 3) zunächst in E. und ab 15.12.2012 in O. dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland auf. Der Vater der Antragsteller Ziffer 2 und 3, die seit 09.01.2013 in O. zur Schule gehen, lebt in Bulgarien. Die Antragstellerin Ziffer 1 ist schwanger; voraussichtlicher Entbindungstermin ist der 17.06.2013.
Die Antragstellerin Ziffer 1 war entsprechend den Angaben in Ergänzung zum Hauptantrag von 2007 bis 2012 sozialversicherungspflichtig in Bulgarien als Küchenhilfe beschäftigt. Ausweislich ihrer Versicherung an Eides statt vom 24.05.2013 und der Bestätigung vom 30.05.2013 bewarb sich die Antragstellerin Ziffer 1 nach ihrem Umzug nach O. erfolglos um eine Stelle als Putzfrau im Gasthof “G.„ in O..
Am 09.01.2013 beantragte die Antragstellerin Ziffer 1 für sich und die beiden Antragsteller Ziffer 2 und 3 beim Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II. In einem Telefonat vom 04.02.2013 gab die Antragstellerin Ziffer 1 gegenüber dem Antragsgegner an, dass sie ursprünglich zur Arbeitssuche nach Deutschland eingereist sei. Da sie nun schwanger sei, suche sie nicht mehr nach Arbeit. Daraufhin lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 05.02.2013 Leistungen nach dem SGB II ab. Nach dem Inhalt des Telefonats vom 04.02.2013 sei die Antragstellerin Ziffer 1 zum Zweck der Arbeitssuche nach Deutschland gezogen. Des weiteren habe sie bisher auch bei der Ausländerbehörde keine Bestätigung für ihr Freizügigkeitsrecht erhalten. Der Antrag sei daher nach § 7 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II abzulehnen.
Hiergegen legte die Antragstellerin Ziffer 1 am 13.02.2013 Widerspruch ein. Die Antragsteller seien als bulgarische Staatsbürger EU-Bürger und würden Freizügigkeit genießen. Auch bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten seien Unionsbürger und ihre Familienangehörige gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt. Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bestehe ein Recht auf Freizügigkeit zum Zweck der Arbeitssuche. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei insoweit mit Europarecht nicht vereinbar und missachte das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot. Letztlich leite sich auch aus der europäischen Verordnung VO (EG) 883/2004 ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für alle Unionsbürger nach den gleichen Maßstäben wie für Deutsche ab. Leistungen nach dem SGB II könne auch beanspruchen, wessen Aufenthaltsrecht nur auf Arbeitssuche beruhe. Ferner sei aufgrund einer Änderung des FreizügG/EU die Freizügigkeitsbescheinigung ersatzlos abgeschafft worden.
Am 11.03.2013 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Freiburg (SG) Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Die Antragstellerin Ziffer 1 suche aufgrund ihrer Schwangerschaft regelmäßig Ärzte auf und benötige Krankenversicherungsschutz. Daneben benötige sie Leistungen für den Kauf von Lebensmitteln und für Mietzahlungen zum Erhalt der Wohnung. Der Antragsgegner hat demgegenüber vorgetragen, dass die zuständige Ausländerbehörde davon ausgehe, dass die Antragsteller überhaupt nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes seien, Bulgarien kein Mitglied des europäischen Fürsorgeabkommens sei und keine Bedenken hinsichtl...