Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger. Zweifel an Europarechtskonformität. Folgenabwägung
Leitsatz (amtlich)
Zum Leistungsausschluss von bulgarischen Staatsangehörigen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche haben. Steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht über die Vereinbarkeit der Norm mit Europarecht abschließend entschieden werden kann, ist als Grundlage der Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eine Folgenabwägung vorzunehmen.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 26. August 2011 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass Leistungen vorläufig bis 31. Januar 2012, längstens bis zur Bestandskraft des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2011 zu gewähren sind.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Der 1975 geborene Antragsteller Ziff. 1, bulgarischer Staatsangehöriger, hält sich seit dem 27. Oktober 2009 dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland auf. Seine 1976 geborene Ehefrau (Antragstellerin Ziff. 2) sowie die 1994 und 1996 geborenen Kinder (Antragsteller Ziff. 3 und 4), ebenfalls bulgarische Staatsangehörige, leben seit September 2010 in der Bundesrepublik Deutschland.
Der Antragsteller Ziff. 1 war in der Zeit vom 1. März 2010 bis 25. Januar 2011 als Eisenflechter beschäftigt, wofür ihm eine Arbeitserlaubnis-EU nur bei dem Betrieb Y. E. in L. erteilt worden war. Das Arbeitsverhältnis endete zunächst durch arbeitgeberseitige saisonbedingte Kündigung zum 30. November 2010, wurde dann jedoch fortgesetzt und endete mit Kündigung zum 25. Januar 2011 endgültig. Im zweiten Kündigungsschreiben berief sich der Arbeitgeber darauf, dass der Antragsteller Ziff. 1 wiederholt unentschuldigt gefehlt habe und im Übrigen telefonisch um die Kündigung gebeten habe. Die Antragsteller Ziff. 2 bis 4 üben bislang keine Beschäftigung im Bundesgebiet aus, die Antragstellerin Ziff. 4 besucht eine allgemeinbildende Schule. Die Antragsteller erhalten seit September 2010 Kindergeld in Höhe von monatlich 368 €.
Auf Antrag vom 27. Januar 2011 bewilligte die Antragsgegnerin vorläufig mit Bescheid vom 7. Februar Leistungen vom 27. Januar bis 31. Mai 2011 in Höhe von 852 € monatlich. Auf den Folgeantrag vom 18. April 2011 lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 19. April 2011 die Gewährung weiterer Leistungen ab.
Mit ihrem Widerspruch legten die Antragsteller die Freizügigkeitsbescheinigung des Antragsteller Ziff. 1 gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) vor. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch zurück und berief sich auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Der Antragsteller Ziff. 1 sei nicht aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weshalb der Ausschluss anwendbar bleibe. Er sei ab dem 25. Januar 2011 nicht unfreiwillig arbeitslos geworden.
Am 21. Juli 2011 haben die Antragsteller zum Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben (S 14 AS 2407/11) und zugleich Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Sie seien derzeit ohne Einkommen und dringend auf die Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Den Lebensunterhalt bestreite die Familie durch Bargeld, das sie sich bei Verwandten und Bekannten leihe und zurückzahlen müsse.
Mit Beschluss vom 26. August 2011 hat das SG die Antragsgegnerin verpflichtet, den Antragstellern ab 21. Juli 2011 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die begehrte einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) fordere das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs. Ein Anordnungsanspruch sei wahrscheinlich gegeben. Die Antragsteller seien erwerbsfähig i.S.v. § 8 SGB II, hilfebedürftig und hätten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 19 Satz 1, 7 Abs. 1 SGB II). Die geliehenen Beträge von Freunden und Verwandten reichten, selbst wenn man sie als Einkommen sehen wollte, nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts aus. Der Leistungsberechtigung stehe auch § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht entgegen. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II treffe nicht zu, denn alle Personen der Bedarfsgemeinschaft befänden sich schon länger als drei Monate in Deutschland. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe und ihre Angehörigen ebenfalls vom Leistungsbezug ausgeschlossen seien, führe ebenfalls nicht zum Ausschluss der Antr...