Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Ablehnung eines Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit. Überschreitung des Gutachtensauftrags. Verletzung der Privatsphäre. Verfahrensfehler bei der Durchführung der Untersuchung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Überschreitung des Gutachtensauftrags mit grober Verletzung der Privatsphäre des Untersuchten rechtfertigt grundsätzlich die Besorgnis der Befangenheit eines Sachverständigen (hier: behauptete Durchsuchung einer mitgeführten Tasche).
2. Dagegen begründet ein Verfahrensfehler des Sachverständigen bei der Durchführung der Untersuchung noch nicht die Besorgnis der Befangenheit, wenn der Fehler auf einer spontanen Entschließung des Sachverständigen beruht, die keine Rückschlüsse auf ein planmäßiges, nur gegen den Untersuchten gerichtetes Ermitteln zulässt.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin wendet sich mit der Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Stuttgart (SG), mit dem ihr im Rechtsstreit S 9 SB 76/09 gestellter Antrag auf Ablehnung der von Amts wegen bestellten Sachverständigen Dr. B.-S. (künftig Gutachterin) wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde.
Zwischen den Beteiligten ist im Hauptsacheverfahren die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mindestens 50 streitig.
Das SG beauftragte (nach schriftlicher Anhörung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen und Einholung des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. G. vom 15.06.2009 und des gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstatteten orthopädischen Gutachtens von Dr. A. vom 19.02.2010) die Gutachterin mit der Erstattung des orthopädischen Gutachtens vom 07.08.2011. Dieses Gutachten ging beim SG am 08.08.2011 ein. In dem Gutachten gelangte die Gutachterin zusammenfassend zu der Bewertung, der GdB sei mit 30 einzustufen. Außerdem teilte die Gutachterin in der Zusammenfassung ihres Gutachtens mit, die Klägerin “trägt einen gut gefüllten DIN-A 4 Aktenordner (der 3 kg gewogen hat)„.
Das Gutachten vom 07.08.2011 wurde vom SG am 11.08.2011 an den Bevollmächtigten der Klägerin übersandt. Am 15.08.2011 rügte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten die Befangenheit der Gutachterin. Sie führte zur Begründung aus, offenbar habe die Gutachterin - ohne sie zu fragen - hinter ihrem Rücken an ihrer Tasche manipuliert und die dort mitgebrachten Gegenstände gesichtet.
Das SG holte zum Befangenheitsgesuch der Klägerin die schriftliche Stellungnahme der Gutachterin vom 22.08.2011 ein. Sie teilte mit, sie habe die Klägerin noch in Unterwäsche in den Röntgenraum gebeten. Die Patienten nehmen dabei üblicherweise ihre gesamten Kleider mit, um sich danach wieder anzuziehen. Die weiteren Akten und Unterlagen werden von einer Helferin entweder ins Röntgen oder ins Backoffice getragen, um es dort zu übergeben. Im Fall der Klägerin habe ihre Helferin festgestellt, dass die Tüte mit Akten sehr schwer sei, worauf die Helferin gebeten worden sei, diese kurz zu wiegen. Sie habe dies auch deshalb für sachdienlich gehalten, weil die Klägerin zuvor gesagt gehabt habe, sie könne nichts Schweres mehr tragen und habe erhebliche Sehnenscheidenprobleme in den Händen. Zu schwere Taschen könnten durchaus ein Grund für solche Beschwerden sein oder diese auch einmal verstärken. Leider sei versäumt worden, die Klägerin vorher um ihre Zustimmung zu bitten. Entgegen der Angaben der Klägerin sei die Tüte mit den sämtlichen Unterlagen nicht durchsucht worden. Sie sei nur insgesamt gewogen und der Klägerin übergeben worden. Die Beschuldigung der Klägerin, dass die gesamten Unterlagen, der Geldbeutel und alles durchsucht und manipuliert worden sei, werde mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Die persönlichen Unterlagen der Patienten seien für sie unerheblich.
Zur Stellungnahme der Gutachterin trug die Klägerin weiter vor, sie habe keine “Tüte„, sondern eine große Umhängetasche dabei gehabt, die alleine schon ca. 1 kg wiege und über der Schulter getragen worden sei. Der Ordner habe 3,1 kg gewogen. Die Aussage, wonach die “Tüte„ komplett 3 kg gewogen habe, sei unzutreffend. Sie habe ihre Tasche und Kleider im Untersuchungszimmer gelassen. Eine Rücknahme in den Röntgenraum sei mithin nicht erforderlich gewesen. Sie hätte der Gutachterin gerne Unterlagen aus ihrem mitgebrachten Ordner gezeigt, was von Seiten der Gutachterin abgelehnt worden sei. Sie habe aktuelle Röntgenaufnahmen der behandelnden Orthopäden zeigen wollen.
Mit Beschluss vom 24.02.2012 lehnte das SG das Gesuch der Klägerin auf Ablehnung der Gutachterin ab.
Gegen den dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 01.03.2012 mit Empfangsbekenntnis zugestellten Beschluss hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 29.03.2012 beim SG Beschwerde eingelegt, die dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt worden ist. Die ...