Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung. Begriff der stationären Einrichtung. Justizvollzugsanstalt. Fiktion der Nichterwerbsfähigkeit. Sozialhilfeanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelung des § 7 Abs 4 SGB 2 ist als gesetzliche Fiktion der Nichterwerbsfähigkeit auszulegen. Wer somit länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder voraussichtlich länger als sechs Monate untergebracht sein wird, ist von vornherein nicht nur nicht leistungsberechtigt nach dem SGB 2, sondern auch nicht erwerbsfähig iS des § 8 Abs 1 SGB 2; für ihn greift der Ausschluss des Sozialhilfeanspruchs gemäß § 5 Abs 2 SGB 2 iVm § 21 SGB 12 damit nicht durch.
2. Als Einrichtung iS des § 7 Abs 4 Alt 1 SGB 2 kann deshalb jede vollstationäre Einrichtung aufgefasst werden, in der der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Hilfebedürftigen die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind. Diese Voraussetzungen sind auch bei einer Justizvollzugsanstalt, in der der Hilfebedürftige eine Strafhaft verbüßt, erfüllt.
3. Zeiten der Haft und ein sich direkt im Anschluss an die Haft anschließender Aufenthalt in einer Fachklinik zur Drogenentwöhnung sind zusammenzurechnen.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 30. Januar 2006 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in vollem Umfang abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind im Antrags- und Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Konstanz (SG), mit der dieses die Antragsgegnerin verpflichtet hat, dem Antragsteller ab 20.01.2006 bis längstens 17.05.2006 Arbeitslosengeld II in Höhe von 20 % der monatlichen Regelleistung zu gewähren.
Am 24.10.2005 ging bei der Agentur für Arbeit R. der schriftliche Antrag des Antragstellers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ein. Ergänzend trug der Antragsteller vor, seit 14.12.2004 befinde er sich in Haft, die bis zum 30.11.2005 dauere. Anschließend komme er in die Fachklinik R. zur Entzugsbehandlung. Bei einer gesetzlichen Krankenversicherung sei er weder pflichtversichert noch familienversichert. Zuletzt sei er privat krankenversichert gewesen.
Mit Bescheid vom 16.12.2005 lehnte die Agentur für Arbeit R. den Antrag vom 24.10.2005 ab. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen lägen nicht vor, da der Antragsteller mit seiner Haft und der stationären Entwöhnung den Sechs-Monats-Zeitraum überschreite. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass in der Zeit, in der der Antragsteller keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehe, er durch den zuständigen Leistungsträger für den Fall der Krankheit nicht versichert sei. Um Nachteile zu vermeiden, werde empfohlen, sich bei der Krankenkasse über die Rechte und Möglichkeiten (z. B. auf freiwillige Weiterversicherung) für die betreffende Zeit zu erkundigen.
Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch und trug zur Begründung vor, da er für die Haftzeit keine Leistungen nach dem SGB II beantragt und auch nicht bezogen habe, sei sein Antrag vom 24.10.2005 als Neuantrag zu bewerten. Die Sechs-Monatsfrist überschreite er nicht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07.02.2006 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, § 7 Abs. 4 SGB II bestimme, dass Leistungen nach dem SGB II nicht erhalte, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Dieser Ablehnungstatbestand sei erfüllt, da auch Zeiten in Einrichtungen zum Vollzug von richterlicher angeordneter Freiheitsentziehung zur stationären Unterbringung im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II zählten. Auch seien Zeiten der Unterbringung in unterschiedlichen Einrichtungen zusammenzurechnen, da der Widerspruchsführer während der gesamten Dauer der Unterbringung nicht erwerbstätig sein könne oder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden könne.
Mit dem am 20.01.2006 beim SG eingegangenen Schreiben vom 19.01.2006 beantragte der Antragsteller, ihm im Wege des einstweiligen Rechtschutzes Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Zur Begründung machte er ergänzend geltend, aufgrund seiner fehlenden Krankenversicherung könnten für ihn nicht die notwendigen ärztlichen Untersuchungen während der Rehabilitation durchgeführt werden. Auch befürchte er, für die bereits erfolgten Behandlungen mit einer Privatrechnung belastet zu werden. Außerdem verfüge er über kein Bargeld mehr und könne sich seinen persönlichen Bedarf an Hygieneartikel, Bekleidung u.a. Ausgaben zur Teilnahme an der alltäglichen Lebensgestaltung in der Fachklinik nicht finanzieren. Das von der Justizvollzugsanstalt erhaltene Entlassgeld von ca. 600 € habe er ber...