Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. versuchte Vergewaltigung. ausführliche Aussagen des Opfers im Strafverfahren gegenüber dem Täter. Nachteil im späteren Opferentschädigungsverfahren. Indiz gegen das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Grad der Schädigungsfolgen. Versorgungsmedizinische Grundsätze. psychische Störung. Vollzeitberufstätigkeit und Pflege von Angehörigen. Indizien gegen eine stärker behindernde Störung. Therapie-Erfordernis. Nichtinanspruchnahme einer psychischen oder psychiatrischen Behandlung. Indiz für Ausheilung. Verneinung einer Beschädigtenrente

 

Leitsatz (amtlich)

1. Gegen das Bestehen einer schädigungsbedingten PTBS spricht, wenn der Geschädigte im Strafverfahren ohne Weiteres ausführliche Angaben zum Tathergang machen konnte und sich damit der stärksten denkbaren psychischen Belastung, der direkten Konfrontation mit dem Täter und dem damit verbundenen Ereignis im Gerichtssaal, stellen konnte.

2. Die Nichtinanspruchnahme einer psychiatrischen oder psychischen Behandlung ist ein gewichtiges Zeichen dafür, dass eine Schädigungsfolge zur Ausheilung gekommen ist.

3. Die Wiederaufnahme einer Behandlung nach einem Hinweis des Gerichts hinsichtlich der Bedeutung einer Therapie für Versorgungsansprüche, legt Versorgungswünsche als eigentlichen Grund für die Wiederaufnahme der Behandlung nahe.

 

Orientierungssatz

Eine Vollzeitberufstätigkeit und die zusätzliche Pflege eines Familienangehörigen (hier: der Mutter) können gegen das Vorliegen einer stärker behindernden Störung im Sinne von Teil B Nr 3.7 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV) sprechen, sodass insoweit ein rentenberechtigender Grad der Schädigungsfolgen von 30 für eine Beschädigtenrente nach § 31 BVG nicht erreicht wird.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 2. Juli 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren nach zwischenzeitlicher Unterbrechung von 2008 bis 2016 noch die erneute Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) nach einem Grad der Schädigung (GdS) von 30 aufgrund einer am 1. September 2006 versuchten Vergewaltigung.

Sie ist 1957 geboren. Nach Abschluss der Hauptschule machte sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau und später zur Industriefachwirtin, in diesem Beruf arbeitet sie überwiegend im Einkauf. Bei ihrem jetzigen Arbeitgeber ist sie seit März 2004 beschäftigt. 1982 hat sie geheiratet, die Ehe wurde im April 2005 geschieden, ihr ehemaliger Ehemann wohnt mit ihr noch im selben Haus. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, die ebenso noch im selben Haus wohnen (vgl. Sachverständigengutachten des W und des S).

Am 16. April 2007 stellte die Klägerin beim Landratsamt O (LRA) einen ersten Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Als zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen gab sie eine Beeinträchtigung der Rotation und Abduktion der linken Schulter, Schmerzen in der rechten Schulter und psychische Beschwerden an. Ursächlich hierfür sei ein Überfall, eine versuchte Vergewaltigung am 1. September 2006, bei dem an ihrer linken Schulter das Labrum zerrissen sei, es habe genäht und fixiert werden müssen.

Zur Vorlage kam das Urteil des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd (AG) vom 20. Dezember 2006 - 3 Ls 16 Js 19149/06 HW - durch das der damals achtzehnjährige Schädiger wegen sexueller Nötigung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt worden war. Hieraus ergab sich, dass der Schädiger am 1. September 2006 gegen 19.20 Uhr, als er mit dem Fahrrad unterwegs gewesen sei, die Klägerin beim Joggen angetroffen habe. Er habe diese zunächst heftig und schon in sexueller Absicht auf das Gesäß geschlagen, die Klägerin habe zu ihm gesagt, er solle sich „verpissen“. Hierauf habe er sich zunächst von dieser entfernt, sei dann aber zurückgekehrt und habe die sich heftig wehrende Klägerin in den Straßengraben gezerrt und gestoßen. Er habe sich auf diese gelegt und ihr die Hand auf Mund und Nase gepresst, um ihre Schreie zu verhindern. Nachdem er der Klägerin an deren Brustwarzen geleckt und erfolglos einen Zungenkuss versucht hatte, setzte er sich rücklings auf sie, öffnete seine Hose und forderte diese auf, sein Geschlechtsteil in die Hand zu nehmen. Als zufällig ein Passant vorbeigekommen sei, habe er von der Klägerin abgelassen und gegenüber diesem angegeben, die Klägerin habe von ihm Sex gegen 10 € verlangt. Die Klägerin habe Hautabschürfungen und Prellungen im Gesichtsbereich, am Hals und der Schulter sowie Kratzer am Rücken erlitten. Sie sei zwei Wochen arbeitsunfähig gewesen, habe sich wegen Schmerzen an der Schulter einer Operation unterziehen und wegen psychischer Beschwerden in ärztliche Behandlung begeben müssen. Sowohl bei d...

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