Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Raubüberfall am Arbeitsplatz. GdS-Feststellung. psychische Störung. aus der Gewalttat resultierender Arbeitsplatzkonflikt. mangelnde Unterstützung durch Vorgesetzte. Mobbingerfahrungen aufgrund der Gewalttat. Arbeitsplatzverlust. Unterbrechung der Zurechnung zu Tat und Täter. eigenverantwortliches Dazwischentreten Dritter. verbleibender Schaden des Opfers ohne Entschädigung. ausführliche Angaben gegenüber dem Sachverständigen zur Gewalttat. Weiterarbeit zum Arbeitsplatzerhalt. Nachteil im Opferentschädigungsverfahren. Indizien gegen das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Voraussetzung einer länger dauernden Belastung. tätlicher Angriff. Abschuss einer Gaspistole. Aufsetzen der Waffe auf den Kopf des Opfers. Abgrenzung zur nicht körperlich wirkenden Bedrohung
Leitsatz (amtlich)
Eine psychische Gesundheitsstörung ist nicht wesentlich ursächlich auf ein schädigendes Ereignis zurückzuführen, ist demnach keine Schädigungsfolge, wenn das schädigende Ereignis zwar kausal iSd conditio-sine-qua-non-Formel ist, sie aber auf einem eigenverantwortlichen Dazwischentreten eines Dritten beruht (hier: Arbeitsplatzkonflikt), das den rechtlichen Zurechnungszusammenhang unterbricht.
Orientierungssatz
1. Das OEG entschädigt die Opfer nicht für alle schwerwiegenden Folgen einer Gewalttat. Entwickelt sich aufgrund eines tätlichen Angriffs ein Arbeitsplatzkonflikt (hier mangelnde Unterstützung am Arbeitsplatz und Mobbingerfahrungen mit Bezug zur Gewalttat) mit psychischen Folgen, welche die unmittelbaren Auswirkungen des Angriffs überlagern (und hier ua zum Arbeitsplatzverlust führen), verbleiben diese (mittelbaren) Folgen des Angriffs - auch wenn sie für das Opfer gravierend sind - im Schadensbereich des Opfers.
2. Ausführliche Angaben des Opfers über die Gewalttat gegenüber dem Sachverständigen oder die Weiterarbeit auf dem Arbeitsplatz (hier aufgrund des unbedingten Willens, den Arbeitsplatz trotz der erlebten Gewalttat zu behalten) können als Indizien gegen das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gewertet werden und insoweit einer Gewaltopferentschädigung entgegenstehen.
3. Zu den Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach den Klassifikationssystemen ICD-10-GM und DSM-IV.
4. Nach neueren Forschungsergebnissen muss für eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (Nr F22.0 ICD-10-GM) die Belastung nicht nur extrem gewesen sein, sondern über einen längeren Zeitraum angedauert haben.
5. Geben die Täter eines Raubüberfalls einen Schuss aus einer Gaspistole ab, wodurch das Opfer Rötungen der Schleim- und Bindehäute erleidet, und setzen sie die Waffe zudem zwischen den Augen auf dem Kopf des Opfers auf, handelt es sich um eine körperlich wirkende Bedrohung mit einer Waffe und damit um einen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG (Abgrenzung zu BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R = BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Juli 2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) aufgrund der Folgen eines Überfalls auf sie am 14. Oktober 2013 während der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit als Servicekraft in einem Autohof.
Sie ist 1963 geboren. Nach dem Realschulabschluss hat sie eine Ausbildung zur Dekorateurin gemacht, anschließend im Ausbildungsbetrieb zwei Jahre gearbeitet und war dann zwei Jahre als Reisedekorateurin tätig. Angeschlossen hat sich eine Tätigkeit bei einem Betrieb für Nahrungsergänzungsmittel und dann eine selbständige zehnjährige Tätigkeit mit einer Dekorationsfirma. Danach machte die Klägerin eine einjährige Ausbildung zur Podologin, Kosmetikerin und Wellnesstherapeutin und war in diesem Beruf tätig, bis sie im Jahr 2003 Vertriebsleiterin einer Kosmetikfirma für Süddeutschland wurde. Wegen der Erkrankung ihrer Mutter gab sie diese Tätigkeit im Jahr 2008 auf, arbeitete kurzzeitig in einer Großkantine und danach als Servicekraft in einem Autohof. Seit dem 7. April 2014 war sie arbeitsunfähig erkrankt und bezieht seit dem 1. April 2015 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Klägerin ist seit 2012 in zweiter Ehe verheiratet, die erste Ehe dauerte von 1986 bis 2006. Ihr Ehemann ist Kraftfahrer. Sie ist kinderlos. Im August 2018 wurde bei Nikotinmissbrauch ein Vestibulumkarzinom (Naseneingangskarzinom) rechts diagnostiziert, das entfernt wurde, die Nachsorgeuntersuchung im November 2018 war unauffällig. An Weihnachten 2018 ist ihr Vater verstorben (vgl. Entlassungsbericht der Rehabilitationseinrichtung P K. S; Sachverständigengutach...