Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Impfung in den ersten Lebensmonaten. Impfkomplikation bei einem Säugling. schrilles Schreien und Fieber keine unüblichen Impfreaktionen. Erwartbarkeit einer ärztlichen Behandlung. Vorstellung in einer Notfallambulanz. bloße Kontaktierung des Kinderarztes nicht ausreichend. sofortiges Aufsuchen eines Arztes zur Wahrung von späteren Impfentschädigungsansprüchen erforderlich. keine Relevanz einer mangelnden Aufklärung der Eltern über Impfrisiken für die soziale Impfentschädigung. Kausalität des Gesundheitsschadens. Ausschluss einer genetischen Ursache. kein Rückschluss auf Ursächlichkeit der Impfung. aluminiumhaltige Adjuvantien. sozialgerichtliches Verfahren. Klage auf isolierte Feststellung eines Grads der Schädigungsfolgen. unzulässige Elementenfeststellungsklage. Sachverständigengutachten. medizinische Sachkunde. Rückschluss von Symptomen auf eine Erkrankung. Anhörung des gesetzlichen Vertreters als Parteivernehmung

 

Orientierungssatz

1. Eine Impfkomplikation (als Voraussetzung für eine spätere soziale Entschädigung wegen eines Impfschadens) bedarf - zumindest bei Impfungen in den ersten Lebensmonaten - der unmittelbaren ärztlichen Konsultation, da die Frage, ob eine über das Übliche hinausgehende Impfreaktion vorliegt, nicht anhand von erst mit deutlichem zeitlichem Verzug erfolgten Symptomschilderungen beantwortet werden kann, sondern hierzu medizinischer Sachverstand nötig ist.

2. Insoweit genügt nicht, dass es unmittelbar nach einer Impfung eines Säuglings zu Schmerzen, schrillem Schreien und Fieber gekommen ist und der Kinderarzt kontaktiert wurde. Vielmehr ist eine Impfkomplikation erst dann anzunehmen, wenn aufgrund der unmittelbaren Impfreaktion eine ärztliche Behandlung erforderlich geworden ist, insbesondere weil der Säugling einer Notfallambulanz vorgestellt werden musste.

3. Ob die Eltern ausreichend über Impfrisiken aufgeklärt worden sind, ist für die Entscheidung über einen Anspruch auf soziale Impfentschädigung nicht relevant.

4. Im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung kann das Gericht bewerten, ob ein Sachverständigengutachten das Klagebegehren in medizinischer Hinsicht stützt und überzeugend ist (insbesondere ob der Sachverständige von im Vollbeweis erwiesenen Anknüpfungstatsachen bzw von den richtigen rechtlichen Maßstäben ausgeht).

5. Es bedarf gerade der medizinischen Sachkunde eines Sachverständigen, um beurteilen zu können, ob geschilderte Symptome den Rückschluss auf eine bestimmte Erkrankung zulassen.

6. Aus der Tatsache, dass eine genetische Verursachung für eine Erkrankung ausgeschlossen wird, lässt sich kein Rückschluss auf die Ursächlichkeit der Impfung ableiten.

7. Impfbedingte Schadensvermutungen, wonach aluminiumhaltige Adjuvantien aus Impfstoffen zu Erkrankungen führen können, sind reine Spekulation (vgl LSG München vom 18.7.2017 - L 20 VJ 5/11).

8. Der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) kann mangels ausdrücklicher Zulassung in § 55 Abs 1 SGG nicht isoliert festgestellt werden (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 13.7.2016 - L 13 VG 10/14).

9. Die Parteivernehmung, zu der auch die Vernehmung des gesetzlichen Vertreters gehört (hier: des Vaters), stellt im sozialgerichtlichen Verfahren kein Mittel der Sachaufklärung dar, mit dem ein Vollbeweis für die behauptete Tatsache erbracht werden könnte.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 01.07.2021; Aktenzeichen B 9 V 63/20 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. Januar 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen eines Impfschadens bei dem Kläger nach Schutzimpfungen im ersten Lebensjahr umstritten.

Er ist 2009 als erstes Kind seiner Eltern geboren und leidet unter anderem an einer epileptischen Enzephalopathie mit Intelligenzminderung. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt, weiter sind die Merkzeichen „G“, „B“, „H“ und „aG“ festgestellt (Bescheid des Landratsamtes Böblingen (LRA) vom 2. Oktober 2012).

Vom 11. bis 13. Oktober 2009 wurde er stationär im O-hospital S wegen klinischer und laborchemischer Hinweise auf eine Neugeboreneninfektion behandelt. Unter antibiotischer Therapie über drei Tage mit Mezlozillin und Tobramycin sei es zu einer raschen Stabilisierung des Allgemeinzustandes und einer Normalisierung der Laborwerte gekommen. Klinisch und neurologisch hätten bei Entlassung keine Auffälligkeiten bestanden.

Er wurde am 11. Dezember 2009, 12. Januar 2010 und 12. Februar 2010 gegen das Rotavirus (Impfstoff: Rotateq ) und am 12. Februar 2010 sowie am 12. März 2010 gegen Pneumokokken (Impfstoff: Prevenar-13) geimpft. Weiterhin erhielt er am 12. Januar 2010, 12. Februar 2010 und 12. März 2010 eine Kombinationsimpfung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, Hib und Hepatitis B (Impfstoff: Infrantex Hexa ), wie der Senat der Aufstellung der L und dem Impfbuch entnimmt. Diese zeigte, auf ...

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