Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Behauptung des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung. Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG. Vorhandensein eigener Erinnerung. wiederentdeckte Erinnerung bzw Schein-Erinnerung. fehlende Aussagekonstanz über einen längeren Zeitraum. suggestive Einflüsse. Beweiswürdigung
Leitsatz (amtlich)
1. Der Anwendungsbereich des § 15 S 1 KOVVfG ist bei einer Beweisnot des Opfers nur eröffnet, wenn eine Erinnerung an den behaupteten schädigenden Vorgang vorhanden ist.
2. Auf nicht bewusst Erlebtes deutet die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse bei intensiven Gesprächen, Befragungen und Nachforschungen durch Autoritätspersonen mit entsprechenden Voreinstellungen und Erwartungen hin.
Orientierungssatz
Generell gilt, dass eher von einer - objektiv zutreffenden - Erinnerung auszugehen ist, wenn die Schilderungen über einen längeren Zeitraum konstant bleiben, während Geschehensabläufe, die sich nicht zugetragen haben, an die aber subjektiv ein Gedächtnisinhalt besteht, im Laufe der Zeit eher auszuufernd beschrieben werden (vgl LSG Mainz vom 19.8.2015 - L 4 VG 5/13 = ZFSH/SGB 2016, 261 und LSG Stuttgart vom 22.9.2016 - L 6 VG 1927/15).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. April 2017 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt wegen der Folgen des behaupteten sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater in ihrem Kindes- und Jugendalter vorrangig die Gewährung einer Beschädigtenversorgung, insbesondere eine Beschädigtengrundrente, nach dem Opferentschädigungsrecht.
Die 1963 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie wuchs mit einer Zwillingsschwester als zehntes von ursprünglich dreizehn Kindern, zehn Mädchen und drei Jungen, einer Landwirtin und eines Schlossers, der 1997 nach mehreren Apoplexen verstarb, auf einem Bauernhof im W. H. der Gemeinde R. im O. auf. Aus einer zehnjährigen Ehe ab 1989 gingen ihre beiden eigenen, mittlerweile erwachsenen Kinder hervor. Nach der Scheidung wegen der Alkoholsucht des Ehemannes heiratete sie 2003 zum zweiten Mal.
Nach dem Hauptschulabschluss war sie von 1979 bis 1981, noch im Elternhaus lebend, als Haushaltshilfe bei der Familie eines Apothekers und von 1982 bis 1985 als Küchenhilfe in einem Hotel-Restaurant in St., wo sie auch ein Zimmer bewohnte, beschäftigt. Von 1986 bis 1989 war sie im Service und als Küchenhilfe bei der D. P. AG tätig. Nach einer fünfjährigen Erziehungszeit arbeitete sie ab 1994 bei ihrer letzten Arbeitgeberin als Postzustellerin und Fachverteilerin. Im Herbst 2013 erkrankte sie arbeitsunfähig und nahm seither keine Beschäftigung mehr auf. Ab Juli 2014 gewährte ihr die Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Das Landratsamt B. stellte bei ihr wegen einer seelischen Störung, psychovegetativen Störungen, funktionellen Organbeschwerden sowie einem Kopfschmerz- und einem chronischen Schmerzsyndrom mit Bescheid vom 21. August 2014 den Grad der Behinderung (GdB) mit 30 seit 24. Juni 2014 fest. Sie war ab 1986 bei der B. P., die 2003 mit der D. B. und diese ab 2017 mit der B. zur B. fusionierte, gegen Krankheit gesetzlich versichert. Ab November 2011 bestand dieser Versicherungsschutz bei der A..
Am 24. Juli 2014 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie sei von frühester Kindheit an bis zu ihrem Auszug im Alter von 18 Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Sie habe sich deswegen erstmals von 1990 bis 1992 in psychotherapeutischer Behandlung beim C. für St e. V. befunden. Auch ein sie behandelnder Facharzt und eine Psychotherapeutin könnten diese schrecklichen Erlebnisse bestätigen. Im Dezember 2013 sei es zu einem seelischen und körperlichen Zusammenbruch gekommen. Angesichts dessen sei sie in der Rehaklinik G. stationär aufgenommen worden. Sie befinde sich weiterhin in psychotherapeutischer Behandlung. In dem am 25. August 2014 nachgereichten und von ihr ausgefüllten Antragsvordruck führte die Klägerin als schädigendes Ereignis „Missbrauch und Vergewaltigung vom Kleinkindalter bis zum Alter von 18 Jahren“ an. Eine Strafanzeige habe sie aus Angst vor ihrem gewalttätigen Vater nicht gestellt. Sie habe versucht, damit zu leben.
In einem von ihr nicht unterschriebenen Dokument in Textform von Juli 2014, welches in der Kopfzeile ihre Anschrift nebst Telefon- und Telefaxnummer nennt sowie die Überschrift „Erinnerungen meines Lebens“ trägt, wurde ausgeführt, ihre Erinnerungen gingen erstmals zurück ins Alter von 5 und 6 Jahren. Bereits mit 5 Jahren habe sie auf dem Bauernhof schwere körperliche Arbeit verrichten müssen. Als sie 6 Jahre alt gewesen sei, sei einer ihrer älteren Brüder bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, weshalb sie noch mehr Tätigkeiten habe übernehmen müssen. Vor ihrer Einschu...