Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermittlungspflicht des Gerichts bei beantragter Rente wegen voller Erwerbsminderung

 

Orientierungssatz

1. Bestehen bei dem Versicherten zwar qualitative Leistungseinschränkungen, haben diese aber keine quantitative Leistungseinschränkung zur Folge, so ist die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB 6 ausgeschlossen.

2. Nur bei einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren Leistungsbehinderung ist der Rentenversicherungsträger zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit verpflichtet (BSG Urteil vom 11. 12. 2019, B 13 R 7/18 R).

3. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die es dem Versicherten nicht erlaubt, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, stellt eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, dass der Arbeitsmarkt trotz eines vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (BSG Urteil vom 19. 12. 1996, GS 2/95). Dies ist dann der Fall, wenn der Versicherte nicht viermal am Tag Wegstrecken von über 500 m jeweils innerhalb von 20 Minuten zu Fuß bewältigen und zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 22.10.2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1958 geborene Kläger hat den Beruf des Energieanlagenelektronikers erlernt. Er war circa drei Jahre im erlernten Beruf tätig. Anschließend arbeitete er zwei Jahre als Versicherungskaufmann. In der Zeit von 1994 bis 2007 war er selbstständig in der Fensterbaubranche tätig. Von 01.03.2007 bis Oktober 2016 war er in Teilzeit (20 Stunden in der Woche) als Lkw-Fahrer bei der Fa. H. versicherungspflichtig beschäftigt. Nach seinen eigenen Angaben handelte es sich um eine angelernte Tätigkeit (Auslieferung von Elektrofahrrädern). Zusätzlich führte er bis Ende Januar 2018 (Gewerbeabmeldung) zusammen mit seiner Ehefrau einen Betrieb für die Montage von Werbeanlagen. Seit Oktober 2016 ist er arbeitsunfähig erkrankt. Seit November 2015 ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 40, seit Januar 2018 ein GdB von 50 anerkannt worden.

Am 06.03.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung sowie eine medizinische Rehabilitation. Letztere wurde von der Beklagten bewilligt und fand in der Zeit vom 29.05.2017 bis 23.06.2017 ganztägig ambulant in der A. S.-Klinik statt. Diese entließ den Kläger am 23.06.2017 arbeitsunfähig. Nach dem Entlassungsbericht der A. S.-Klinik vom 26.06.2017 liegt die Leistungsfähigkeit für die letzte berufliche Tätigkeit als Lkw-Fahrer bei drei bis unter sechs Stunden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe hingegen nach Rekonvaleszenz eine Leistungsfähigkeit von sechs Stunden und mehr für körperlich mittelschwere Arbeiten. Die Schmerzen und die Beweglichkeit im linken Schultergelenk hätten sich gebessert (zuletzt Anteversion 140°, Retroversion 20° und Abduktion 80°).

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom 25.07.2017 ab. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente seien nicht erfüllt. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Auslieferungsfahrer könne der Kläger zwar nicht mehr ausüben. Er sei jedoch auf leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, die er noch im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne, breit verweisbar.

Hiergegen legte der Kläger am 02.08.2017 Widerspruch ein. Zur Begründung gab er an, der von der Versorgungsverwaltung anerkannte GdB müsse berücksichtigt werden. Außerdem müssten sämtliche Funktionsbeeinträchtigungen in die Beurteilung mit einfließen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Als Begründung führte sie an, nach den Feststellungen des Sozialmedizinischen Dienstes seien keine Auswirkungen der bestehenden Erkrankungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einschränkten. Der Kläger könne demnach unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.

Am 04.01.2018 hat der Kläger beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, die Beklagte habe nicht alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen berücksichtigt. Im Verfahren auf Feststellung des GdB seien als zusätzliche Funktionsbehinderungen eine Refluxkrankheit der Speiseröhre, ein Knorpelschaden an beiden Kniegelenken, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Bandscheibenschaden sowie eine Fingerpolyarthrose anerkannt worden. Weiterhin habe die Beklagte aktenkundige Befunde bei ihrer Beurteilung nicht beachtet. Insgesamt seien funktionelle Einschränkungen der Finger, der Knie, des Magens, der Ohren und der Schulter sowie Bluthochdruc...

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