Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. medizinische Rehabilitation. Versicherter im Jugendstrafvollzug. Betäubungsmittelabhängigkeit. Rehabilitationsmaßnahme im Zeitraum der Zurückstellung der Strafvollstreckung. kein Ruhen nach § 16 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 5
Orientierungssatz
Dem Anspruch eines gesetzlich Versicherten gegen seine Krankenversicherung auf Bewilligung einer Rehabilitationsmaßnahme im Zeitraum der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG (juris: BtMG 1981) steht nicht der Ruhenstatbestand des § 16 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 5 entgegen.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20.10.2023 wird zurückwiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Tragung der Kosten einer stattgehabten Entwöhnungsbehandlung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) streitig.
Der 2005 geborene, bei der Beklagten im Rahmen einer Familienversicherung gesetzlich krankenversicherte Kläger befand sich seit dem 25.12.2021 zum Vollzug einer Jugendstrafe in der Justizvollzugsanstalt A1. Da die Möglichkeit einer Zurückstellung nach § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) bestand, beantragte er am 28.07.2022 bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) die Kostenübernahme einer stationären Suchtrehabilitation aufgrund einer bestehenden THC-Abhängigkeit. Die DRV Bund, die ihre Zuständigkeit nicht für gegeben hielt, leitete den Antrag am 08.08.2022 an die Beklagte weiter.
Mit Bescheid vom 26.08.2022 lehnte die Beklagte den Antrag ab und führte zur Begründung aus, der Kläger befinde sich im Vollzug einer Haftstrafe, die auch im Falle einer möglichen Zurückstellung nicht unterbrochen werde. Während der Strafvollstreckung bestehe ein Anspruch auf Krankenbehandlung nach dem Strafvollzugsgesetz, der auch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation umfasse.
Gegen die ablehnende Entscheidung erhob der Kläger mit Schreiben vom 05.09.2022 Widerspruch, den der Widerspruchsausschuss der Beklagten in der Folge - nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg (MD) vom 26.01.2023 (K1), welches die Kostenübernahme befürwortete - mit Widerspruchsbescheid vom 15.03.2023 als unbegründet zurückwies, und beantragte beim Sozialgericht Heilbronn (SG) zunächst erfolglos die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (Beschluss vom 03.11.2022, S 9 KR 2437/22 ER ). Nachdem das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Beklagte mit Beschluss vom 09.01.2023 ( L 5 KR 3153/22 ER-B ) im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hatte, dem Kläger eine Zusage für eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Drogentherapie zu erteilen, und die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 23.01.2023 eine entsprechende Maßnahme unter Vorbehalt des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens bewilligt hatte, begab sich der Kläger zur Rückstellung der Freiheitsstrafe (AG A1, Beschluss vom 14.03.2023) zum 29.03.2023 in die Therapieeinrichtung Haus W1.
Am 11.04.2023 hat der Kläger Klage beim SG erhoben und zur Begründung vorgetragen, er habe keinen Anspruch auf Krankenbehandlung nach dem Strafvollzugsgesetz, so dass sein Anspruch auf Leistungen gegenüber der Beklagten nicht ruhe. Das Strafvollzugsgesetz sei nur bei einem Vollzug in einer Justizvollzugsanstalt anwendbar. Mit Antritt der Entwöhnungsmaßnahme befinde er sich aber gerade nicht mehr in einer Justizvollzugsanstalt.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie geht von der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung aus. Das Bundessozialgericht (BSG) habe entschieden, dass der Strafvollzug während einer Zurückstellung nach § 35 BtMG fortdauere. Eine andere Handhabung der Finanzierung einer Drogenentwöhnungstherapie sei nicht sachgerecht; die Maßnahme nach § 35 BtMG diene der Resozialisierung von Straftätern und obliege damit als Aufgabe originär dem Staat und nicht der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung.
Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 20.10.2023 unter Aufhebung des Bescheides vom 26.08.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2023 verurteilt, die Kosten für die stationäre Entwöhnungsbehandlung in der Fachklinik Haus W1 zu tragen. Der Bescheid vom 26.08.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2023 sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger habe gegen die Beklagte als zweitangegangenem und damit zuständigem Rehabilitationsträger einen Anspruch auf endgültige Tragung der Kosten für die stattgehabte Entwöhnungsbehandlung in der Fachklinik Haus W1. Der Anspruch beruhe auf §§ 11 Abs. 2, 40 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach hätten Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig seien, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern,...