Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen RF. Ermäßigung des Rundfunkbeitrags. Fähigkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. unwillkürliche Lautäußerung. „Störung“ anderer Veranstaltungsteilnehmer. Inklusionsziel. gegenseitige Rücksichtnahme. Teilnahmefähigkeit für kleinere Veranstaltungen ausreichend. geistige Aufnahmefähigkeit nicht erforderlich
Leitsatz (amtlich)
Es ist mit dem Inklusionsgedanken nicht vereinbar, behinderte Menschen allein deshalb von öffentlichen Veranstaltung gänzlich auszuschließen, weil diese sichtbar anders sind oder durch unwillkürliche Lautäußerungen auffallen; vielmehr muss die Allgemeinheit diese krankheitsbedingten Störungen akzeptieren und hinnehmen, um einer Diskriminierung entgegenzuwirken.
Orientierungssatz
1. Die Fähigkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, die den Nachteilsausgleiches „RF“ (Ermäßigung des Rundfunkbeitrags) ausschließt, ist nicht so zu verstehen, dass dem schwerbehinderten Menschen die Teilnahme an jeglicher Art von öffentlicher Veranstaltung möglich sein muss. Erforderlich, aber auch ausreichend ist die Teilnahmefähigkeit an einer nennenswerten Anzahl von öffentlichen Veranstaltungen, die nicht zwangsläufig Massenveranstaltungen sein müssen.
2. Das „Teilnehmen“ in diesem Sinne meint neben der körperlichen Anwesenheit nicht auch die geistige Aufnahmefähigkeit.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 7. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „RF“ (Rundfunkgebührenermäßigung).
Sie ist 1973 geboren, verheiratet, hat zwei Töchter und bewohnt eine Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus im Hochparterre. Am April 2016 erlitt sie einen malignen Anterioinfarkt, in dessen Folge zur Entlastung des Hirndrucks die Schädeldecke geöffnet werden musste und im August 2016 wieder verschlossen werden konnte. Verblieben ist eine spastische Hemiparese sowie eine sensomotorische Aphasie. Bei ihr war zunächst eine Pflegestufe 2 anerkannt, die nach der gesetzlichen Änderung der Pflegeleistungen zum 1. Januar 2017 in einen Pflegegrad 3 überführt wurde.
Am 6. März 2019 beantragte sie bei dem Landratsamt L. (LRA) erstmals die Feststellung des GdB und legte das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 23. Juli 2018 (Wiederholungsgutachten) vor. Darin wurde weiterhin ein Pflegegrad 3 ermittelt. Zur Anamnese wurde ausgeführt, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Vorbegutachtung allseits orientiert gewesen sei. Die Stimmungslage habe sich unter Antidepressiva ausgeglichen gezeigt. Sie habe nur einzelne Worte sprechen, ihren Tagesablauf aber selbstständig strukturieren können. Im neu erhobenen Selbstauskunftsbogen hätten die Angehörigen keine Veränderungen des Gesundheitszustandes angegeben. Bei der häuslichen Begutachtung sei berichtet worden, dass sich nichts verändert habe. Es sei zu keiner Verschlechterung, aber auch zu keiner Verbesserung ihres Gesundheitszustandes gekommen.
Dr. D. sah in Auswertung des Pflegegutachtens versorgungsärztlich einen GdB von 100 wegen der Schlaganfallfolgen, einer inkompletten Halbseitenlähmung rechts, einer Sprachstörung, eines Anfallsleidens, eines hirnorganischen Psychosyndroms sowie einer Depression. Daneben bestünden die Voraussetzungen für die Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), „B“ (ständige Begleitung), „H“ (hilflos) und „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Mit Bescheid vom 29. Juli 2019 stellte das LRA einen GdB von 100 seit dem 6. März 2019 sowie die Merkzeichen „G“, „B“, „H“ und „aG“ fest, nicht hingegen das Merkzeichen „RF“, da die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages (RBStV) nicht gegeben seien.
Den auf die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ beschränkten Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchbescheid vom 15. Oktober 2019 zurück und führte zur Begründung aus, dass die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 RBStV unter anderem erfüllt seien bei behinderten Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Als öffentliche Veranstaltungen kämen Kino-, Theater-, Konzert-, Vortrags- und kirchliche Veranstaltungen sowie öffentliche Feste, Versammlungen und Sportveranstaltungen in geschlossenen Räumen oder im Freien in Betracht. Die Möglichkeit der Teilnahme nur an bestimmten Veranstaltungen begründe die Zuerkennung von „RF“ nicht, dasselbe gelte für örtlich nur wenige oder fehlende Veranstaltungen. Der GdB alleine begründe die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht....