Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. medizinische Voraussetzung. quantitative Leistungseinschränkung. hirnorganische Veränderungen ohne funktionelles Defizit. Behandlungsmöglichkeit. medizinische Beurteilung auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde. Zuerkennung eines Pflegegrads. Aussagekraft hinsichtlich der zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Bloße bildgebend sichtbare hirnorganische Veränderungen ohne funktionelle Defizite begründen keine zeitliche Leistungseinschränkung für leichte berufliche Tätigkeiten; Entsprechendes lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass der Versicherte angibt, im Haushalt nur noch "das Nötigste" zu machen.
2. Für die Frage des Eintritts eines Versicherungsfalls der Erwerbsminderung spielt es auch keine entscheidende Rolle, welche therapeutischen Möglichkeiten bestehen und ob diese ausgeschöpft sind; ebenso richtet sich die medizinische Beurteilung nicht nach bloßen "Eindrücken" der erkennenden Richter vom Versicherten in Terminen, sondern nach überdauernden funktionellen Defiziten auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde, die schlüssig und nachvollziehbar sein müssen.
3. Die Zuerkennung eines Pflegegrads, noch dazu allein aufgrund eines "strukturierten Telefoninterviews" mit Angehörigen des Versicherten, hat für sich gesehen keinerlei Aussagekraft zur zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 04.04.2023 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen (voller) Erwerbsminderung im Zeitraum vom 01.01.2022 bis 31.12.2024 hat.
Der 1961 geborene Kläger absolvierte nach eigener Angabe von Anfang September 1977 bis Ende Juli 1980 erfolgreich eine Ausbildung zum Schreiner (S. 66 VerwA). In der Folgezeit war er - mit Unterbrechungen namentlich durch Zeiten der Arbeitslosigkeit - in diesem Beruf bzw. als Fensterbauer und Landwirtschaftshelfer beschäftigt. Zuletzt arbeitete er von 2008 (so seine Angabe, S. 102, 146 SG-Akte) bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit im September 2016 (vgl. S. 209 und 284 VerwA) versicherungspflichtig als Hausmeister in einem Kinderdorf. Von Mitte Oktober 2016 bis Mitte Oktober 2019 bezog er Kranken- bzw. Arbeitslosengeld und ab März 2020 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Wegen der weiteren Einzelheiten der zurückgelegten rentenrechtlichen Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 21.11.2022 (S. 180 ff. SG-Akte) Bezug genommen. Bei dem Kläger ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt (S. 168 VerwA); außerdem erhält er von der Pflegekasse Pflegegeld nach Pflegegrad 2 (Bescheid vom 01.07.2020, S. 85 VerwA).
Aus zwei Rehabilitationsmaßnahmen auf Kosten der Beklagten (stationär im Dezember 2015/Januar 2016 in der S1-klinik B1 - Abt. Psychosomatik - und ganztägig ambulant im Oktober 2018 im Zentrum für ambulante Rehabilitation - Z1 - in A1) wurde der Kläger jeweils mit einem zeitlichen Leistungsvermögen für jedenfalls leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts im Umfang von sechs Stunden und mehr täglich entlassen (s. im Einzelnen die ärztlichen Entlassungsberichte vom 14.01.2016, S. 182 ff. VerwA und vom 23.10.2018, S. 234 ff. VerwA).
Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung von Mitte Juni 2019 lehnte die Beklagte nach Durchführung medizinischer Ermittlungen (u.a. Einholung des Gutachtens des Facharztes H1 vom 20.09.2019 mit Hinweis auf ein aggravierendes Beschwerdevorbringen des Klägers, S. 294 ff. VerwA) ab (Bescheid vom 10.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.11.2019).
Am 15.06.2020 beantragte der Kläger unter Verweis auf seine weitere (tagesklinische) Behandlung erneut die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte versagte dies zunächst wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers (kein Formrentenantrag trotz Aufforderung) mit Bescheid vom 02.09.2020. Nachdem der Kläger den Formrentenantrag unter dem 22.09.2020 eingereicht hatte (s. S. 59 VerwA), zog die Beklagte (weitere) medizinische Befundunterlagen bei und ließ diese durch H1 sozialmedizinisch auswerten (Stellungnahme vom 06.10.2020, S. 347 f. VerwA). Beim Kläger bestünden, so der Beratungsarzt, degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit lumbaler Spinalkanalstenose L1/2, ein Zustand nach (Z.n.) Operation eines Bandscheibenvorfalls L1/2 im November 2019 - gebessert entlassen -, eine sehr leichte Fußheberparese bei konservativer Therapieempfehlung, ein Z.n. tagesklinischer Behandlung einer mittelgradigen depressiven Episode bei rezidivierend depressiver Störung - gebessert entlassen - sowie eine somatoforme Schmerzstörung. Von neurologisch-psychiatrischer Seite sei der zuerkannte Pflegegrad nicht nachvollziehbar. Der Kläger könne ...