Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Befugnis des Rechtsmittelgerichts zur Berichtigung offenbarer Schreibfehler im Urteil des SG. Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. medizinische Voraussetzung. quantitative Leistungseinschränkung. Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. objektive Beweislast des Versicherten. medizinische Beurteilung auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde. Antrag auf Weitergewährung einer befristet bewilligten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zuerkennung einer Schwerbehinderteneigenschaft. Aussagekraft hinsichtlich der zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Das Rechtsmittelgericht ist befugt, von Amts wegen in der Berufungsendentscheidung einen offenbaren Schreibfehler im Urteil des SG (falsches Entscheidungsdatum) von Amts wegen zu berichtigen und zwar auch dann, wenn das Urteil keinen Bestand hat.
2. Der Versicherte trägt die objektive Beweislast dafür, dass der Versicherungsfall der Erwerbsminderung zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmals vorgelegen haben und seither ununterbrochen besteht.
3. Für die Frage des Eintritts eines Versicherungsfalls der Erwerbsminderung kommt es nicht auf bloße „Eindrücke“ der erkennenden Richter vom Versicherten in Terminen an, sondern die medizinische Beurteilung richtet sich nach überdauernden funktionellen Defiziten auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde, die schlüssig und nachvollziehbar sein müssen.
Orientierungssatz
1. Die Entscheidung, ob dem Versicherten nach Ablauf eines Bewilligungszeitraum weiter eine Rente wegen Erwerbsminderung zusteht, ist nicht bloß die Verlängerung einer früher bereits dem Grunde nach anerkannten Sozialleistung, sondern stellt eine eigenständige und inhaltlich vollständige erneute Bewilligung der beantragten Rente dar, zumal sich der Wille des Versicherungsträgers von vornherein nur auf die Gewährung von Rente für den bewilligten Zeitraum bezieht und es infolgedessen für eine darüber hinaus reichende Zeit an jener für den Versicherten positiven Regelung durch den Versicherungsträger fehlt (vgl LSG Stuttgart vom 15.11.2021 - L 10 R 641/21 = juris RdNr 32 ).
2. Dem Grad der Behinderung eines Versicherten kommt keinerlei Aussagekraft hinsichtlich seiner zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit zu (vgl BSG vom 17.9.2015 - B 13 R 290/15 B = juris RdNr 5 ).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19.10.2023 - nach Berichtigung des Rubrums hinsichtlich des Tages der mündlichen Verhandlung (19.10.2023 statt 11.10.2023) - aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für die Zeit vom 01.11.2019 bis 31.10.2025 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zusteht.
Der 1966 geborene Kläger, griechischer Staatsbürger, zog im Jahr 1968 in das Bundesgebiet zu. Eine Ausbildung zum Metallwerker von Anfang September 1984 bis Anfang Oktober 1985 brach er nach eigenen Angaben wegen Einziehung zum griechischen Militärdienst ab. Mit Unterbrechungen war der Kläger in der Folge als Werkschutzfachkraft sozialversicherungspflichtig tätig, zuletzt von Anfang Februar 1997 (vgl. Bl. 11 S 20 R 5894/16) bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit Anfang des Jahres 2013 (letzter Pflichtbeitragsmonat aus Beschäftigung: Januar 2013) bei dem Sicherheitsdienstunternehmen S3. Er bezog bis zum 29.07.2013 (das Arbeitsverhältnis mit der S3 endete Ende Juli 2013) Krankengeld und vom 01.08.2013 bis 21.07.2014 Arbeitslosengeld bzw. von der Beklagten (rückwirkend) Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.04.2014 bis 30.09.2015 (s. dazu noch sogleich). Vom 01.01.2017 bis 31.08.2017 und vom 01.10.2017 bis 31.10.2018 stand der Kläger im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), so auch erneut im Dezember 2018; von Mitte November bis Ende Dezember 2018 sowie von Anfang August bis Ende September 2019 übte der Kläger noch eine nicht versicherungspflichtige geringfügige Beschäftigung aus. Wegen der weiteren Einzelheiten der rentenrechtlichen Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 15.02.2024 (S. 81 ff. Senats-Akte) Bezug genommen. Bei dem Kläger, der seit dem 20. Lebensjahr an einem essentiellen Tremor (Bl. 50 SG-Akte S 20 R 5894/16) und seit dem 25. Lebensjahr an einer chronischen Hepatitis B (Bl. 51 a.a.O.) leidet, war seit April 2011 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt; zwischenzeitlich ist dem Kläger ein GdB von 60 zuerkannt.
Im September 2013 beantrage der Kläger bei der Beklagten erstmals die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Anfang Juli 2014 wurde bei ihm in der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums T1 eine stereotaktische Elektrodenimplantation beidseits mit nachfolgender Generatorimplantation links infr...