Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Versorgungskrankengeld. Einstellung bei dauernder Arbeitsunfähigkeit. Prognosezeitraum von 78 Wochen. gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung. konkludenter Verwaltungsakt bei Zahlung des Versorgungskrankengeldes
Leitsatz (amtlich)
An die Prognosefrist von 78 Wochen zur Prüfung der Frage, ob ein Dauerzustand (hier PTBS nach Überfall) eingetreten ist, ist - auch wenn die Krankheit seit 10 Jahren phasenweise verläuft - sowohl die Versorgungsverwaltung wie das Gericht gebunden, insbesondere da Versorgungskrankengeld kein auf Dauer angelegter Ausgleich für eine Minderung des Arbeitseinkommens darstellt.
Die Prognoseentscheidung ist voll gerichtlich überprüfbar.
Orientierungssatz
Zwar ist mit der Überweisung des Versorgungskrankengeldes an den Kläger zugleich durch konkludentes Handeln ein Bewilligungsbescheid gem § 33 Abs 2 S 1 SGB 10 “in anderer Weise„ erlassen worden (vgl zur insoweit vergleichbaren Situation beim Krankengeld BSG vom 16.9.1986 - 3 RK 37/85 = SozR 2200 § 182 Nr 103). Da das Versorgungskrankengeld jedoch jeweils monatsweise überwiesen wird, ergibt sich hieraus keine Regelung für einen Anschlusszeitraum.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 3. September 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Versorgungskrankengeld über den 06.02.2010 hinaus.
Der am … 1984 geborene Kläger wurde am 10.09.1999, also im Alter von 15 Jahren, Opfer einer Gewalttat. Nach eigenen Angaben sei er hierbei von einer Gruppe von 15 Personen überfallen worden. Er selbst sei mit drei anderen Bekannten zusammen gewesen, die sich aber zurückgehalten hätten. Die Angreifer seien Ausländer gewesen, die Zigaretten hätten haben wollen. Den ersten beiden habe er eine Zigarette gegeben, dann jedoch keine weiteren mehr hergegeben, weil er selbst nur noch wenige gehabt habe. Als einer der Angreifer seiner Freundin ins Gesicht geschlagen habe, habe er ihn zur Rede gestellt. Daraufhin sei er von der Gruppe misshandelt worden (Gutachten M. im Rentenverfahren, Bl. 217 Rentenakte) und erlitt hierdurch multiple Stichverletzungen, Prellungen an Kopf, Becken, linkem Handgelenk und linkem Oberschenkel, eine Nasenbeinfraktur mit Septumhämatom sowie eine kaum dislozierte Orbitabodenfraktur links und einen 2 mm breiten Spitzenpneumothorax im linken Lungenoberfeld (ärztlicher Entlassungsbericht des Kreiskrankenhauses E. vom 11.10.1999, Bl. 16 OEG-Akte). Nach der ersten stationären Behandlung vom 10. bis 22.09.1999 schloss sich eine weitere stationäre Behandlung vom 29.09. bis 05.10.1999 in der Universitätskinderklinik H. aufgrund einer Artikulationsstörung und intermittierender Kribbelparästhesien der linksseitigen Kopfhaut an, ohne dass sich aufgrund der durchgeführten Untersuchungen ein organisches Korrelat hierfür finden ließ. Die beklagte Symptomatik wurde als mögliche Konversionssymptomatik im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach der erlebten Gewalttat interpretiert (Bl. 18/19 OEG-Akte). Nach dem Überfall hat der Kläger zunächst einzelne Stunden, dann vollständig die Schule wieder besucht und den Realschulabschluss erlangt. Anschließend wechselte er auf das Technische Gymnasium in M., brach jedoch bereits im Oktober 2000 wegen des hohen Tempos der Leistungsanforderungen und weil er sich im Kontakt mit manchen Mitschülern sehr unwohl gefühlt hatte den Schulbesuch ab, um bis März 2001 die Bauzeichner-Schule zu besuchen. Einen Ausbildungsplatz zum Bauzeichner konnte er jedoch nicht finden, so dass er im September 2001 eine Ausbildung zum Heizungsbauer begann, die er jedoch nach öfteren krankheitsbedingten Fehlzeiten im Februar 2002 abbrach (vgl. psychiatrisches Gutachten Dr. B. vom 30.06.2003, Bl. 72 OEG-Akte).
Mit Erstanerkennungsbescheid vom 05.02.2001 erkannte der Beklagte als Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) eine abgeheilte Nasenbein-, Orbitaboden- und Kieferhöhlen-Vorderwandfraktur, eine reizlose Narbe im Bereich des linken Halses, am linken Handgelenk sowie am linken Oberschenkel sowie eine PTBS an und gewährte ab 01.09.1999 eine Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vom Hundert (v. H.).
Auf Veranlassung des Beklagten erstattete Oberarzt Dr. B., Psychiatrische Klinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum H., das Gutachten vom 30.06.2003, der als Folgen der Gewalttat eine chronifizierte Form einer PTBS, die mit erheblichen psychosozialen Funktionseinschränkungen verbunden sei, eine mittelgradige depressive Störung sowie einen somatoformen Beschwerdekomplex diagnostizierte. Die Leitsymptomatik der PTBS seien die intrusiven Gedanken sowie das Vermeidungsverhalten mit angst-phobischen Reaktionen. Im Bereich der depressiven Leitsymptomatik finde sich ein Beschwerdebild mit Antriebslosigkeit, S...