Entscheidungsstichwort (Thema)
Fremdrentenrecht. Beitragszeit eines Mitglieds einer Kolchose in der ehemaligen UdSSR. Nachweis. Glaubhaftmachung. ununterbrochene Beitragsentrichtung. Witwenrente. System der gesetzlichen Rentenversicherung. Tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Ganzjähriges Beschäftigungsverhältnis. Teilzeitbeschäftigung. Abrufbereitschaft. Rechtsschutzinteresse
Leitsatz (amtlich)
Eventuelle Unterbrechungen der Arbeitsleistung spielen für die Beurteilung des Vorliegens einer Beitragszeit bei einem Mitglied einer Kolchose in der ehemaligen UdSSR keine Rolle, wenn die ununterbrochene Beitragsentrichtung durch die Kolchose nachgewiesen ist. Es gelten die in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSG vom 19.11.2009 - B 13 R 67/08 R, vom 21.8.2008 - B 13/4 R 25/07 R = SozR 4-5050 § 26 Nr 1 = SozR 4-5050 § 15 Nr 5 und vom 12.2.2009 - B 5 R 39/06 R = BSGE 102, 248 = SozR 4-5050 § 15 Nr 6) hierzu aufgestellten Maßstäbe für Mitglieder rumänischer LPG.
Normenkette
FRG § 15 Abs. 1, 2 S. 1, § 22 Abs. 1, § 26; SGB X § 44 Abs. 4
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. Februar 2012 abgeändert.
Die Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 31. März 2010 und 28. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2010 verurteilt, der Klägerin unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 22. Dezember 2003 ab dem 1. Januar 2006 höhere Hinterbliebenenrente unter Berücksichtigung der Zeiten vom 8. Dezember 1967 bis 31. Dezember 1969, 1. Januar bis 31. Dezember 1973, 1. Januar 1975 bis 31. Dezember 1985 und 1. Januar 1987 bis 13. April 1995 als nachgewiesene Beitragszeiten zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet der Klägerin 9/10 deren außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung höherer Witwenrente unter Berücksichtigung in der ehemaligen Sowjetunion im Zeitraum vom 8. Dezember 1967 bis 13. April 1995 zurückgelegter Versicherungszeiten als nachgewiesene Beitragszeiten im Wege des Zugunstenverfahrens.
Die am 1948 in K. geborene Klägerin siedelte 1995 gemeinsam mit ihrem am Ehemann (im Folgenden E) in die Bundesrepublik Deutschland über. Beide wurden als Spätaussiedler nach § 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt (Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG der Stadt Pforzheim vom 17. Oktober 1995). E verstarb am 20. November 2003.
E wurde 1957 als “Kolchosbauer„ Mitglied der Kolchose Thälmann, Kamenskij, wo er die Tätigkeit eines Tischlers oder Zimmermanns in einem holzverarbeitenden Werk ausübte. In der Zeit vom 3. Dezember 1964 bis zum 7. Dezember 1967 leistete E Militärdienst in der Sowjetarmee. Anschließend nahm er seine Tätigkeit in der Kolchose wieder auf und führte sie bis zur Übersiedlung weiter.
Kolchosmitglieder waren in der Sowjetunion ab 1. Januar 1965 durch Gesetz vom 15. Juli 1964 über Renten und Unterstützungen für Kolchosmitglieder (VVS.S.S.S.R Nr. 29 vom 18. Juli 1964 Pos. 340) durch öffentlich-rechtlichen Zwang in ein System der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen worden, dem “zentralisierten Unionssozialversicherungsfonds der Kolchosbauern„ (im Folgenden Zentralfonds). Die Mittel zu diesem Zentralfonds, der auf der Grundlage des Gesetzes vom 15. Juli 1964 über Renten und Unterstützungen für Kolchosmitglieder gebildet wurde, wurden aus den Einkünften der Kolchosen und durch Staatszuschüsse aufgebracht. Die “Beitragszahlung„ des Kolchos erfolgte in der Weise, dass dieser einen bestimmten Prozentsatz seines jährlichen Bruttoertrages an den Zentralfond abführte. Daneben bestand der “zentralisierte Unionsversicherungsfonds der Kolchosbauern„, der aus Beiträgen der Kolchosen gebildet wurde, die in Prozentsätzen nicht ihres Bruttoertrages, sondern ihres Gesamtlohnfonds errechnet wurden. Aus diesem Fonds wurde kurzfristige Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, Geldleistungen bei Kindergeburt, Bestattungsgeld sowie Leistungen bei Unterbringung der Kolchosbauern in Sanatorien und Erholungsheimen gedeckt. Die Beitragszahlung der Kolchose zum Zentralfonds für ihre Mitglieder wurde auch im Fall von Beschäftigungslücken (z.B. Arbeitsunfähigkeit, Witterung) nicht unterbrochen. Die Über- oder Untererfüllung der Arbeitsnormen durch die Kolchosmitglieder wirkte sich nicht auf die Beitragszahlung aus. Die Mitgliedschaft konnte nicht durch mehrtägige oder mehrwöchige Arbeitsunfähigkeit enden. Die Beträge wurden von der Kolchose Thälmann in der streitigen Zeit entrichtet.
Kolchosmitglieder waren bei ihrer Arbeit im Kolchos nach Art, Ort, Zeit und Ausführung an fremde Weisungen gebunden. Aus dem Mitgliedschaftsverhältnis heraus ergab sich ihre Pflicht, Arbeit für den Kolchos nach Weisung der Kolchosverwaltung zu leisten; sie mussten jederzeit bereit sein, Arbeit zu leisten. Zugleich durften sie in einem anderen, sei es staatlichen oder gesellschaftlichen, Betrieb nicht beschäftigt werden.
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