Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. psychischer Gesundheitsschaden. PTBS nach ICD-10 bzw DSM-V. dissoziative Störung. haftungsbegründende Kausalität. hinreichende Wahrscheinlichkeit. MdE-Feststellung- situative Phobie vor dem selbstständigen Führen eines Pkw und Sitzen auf dem Fahrersitz. sozialgerichtliches Verfahren. Beweisantrag auf Vernehmung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Sachdienlichkeit: mündliche Erörterung des Gutachtens
Leitsatz (amtlich)
1. Eine situative Phobie vor dem Autofahren (nur als Fahrerin) ist mit einer MdE von 10 vH zu bewerten. Ein Verkehrsunfall ohne Fremdbeteiligung mit lediglich leichten Verletzungsfolgen erfüllt nicht das A- bzw Traumakriterium für eine PTBS nach ICD-10 bzw DSM-V. Eine dissoziative Störung, die zudem erst ein Jahr nach einem solchen Unfall auftritt, kann nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückgeführt werden.
2. Zu Beweisanträgen auf Vernehmung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung.
Orientierungssatz
Soweit die Klägerin darauf hinweist, dass sie grundsätzlich in dem gesundheitlichen Zustand versichert gewesen sei, in dem sie sich zum Unfallzeitpunkt befunden habe, sie bis dahin an keiner psychiatrischen Erkrankung gelitten habe und nicht allein wegen ihrer ggfs bestehenden Persönlichkeitsstruktur ein Ursachenzusammenhang verneint werden könne, verkennt sie, dass es im Bereich des Unfallversicherungsrechts gerade keine Beweisregel gibt, wonach auch bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15.10.2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung einer Verletztenrente im Streit.
Die 1976 geborene Klägerin war bei der Firma S GmbH in P als Sachbearbeiterin beschäftigt. Am 02.03.2015 prallte sie - ihren eigenen Angaben nach (Akten-Id: 59/S. 1 VA) - auf dem Weg zur Arbeit auf der Bundesstraße B 10 beim Ausweichen aufgrund eines Hindernisses mit ihrem Pkw in eine Leitplanke, woraufhin sich der Pkw mehrmals drehte und schließlich auf der linken Fahrbahn zum Stehen kam. Laut D-Arztbericht vom 02.03.2015 zog sich die Klägerin hierbei einen Fremdkörper im Auge, eine Rückenprellung und eine WAD I° (Schleudertrauma) zu (Akten-Id: 1/S. 1 VA). Der Fremdkörper im rechten Auge wurde noch am Unfalltag durch den K entfernt (Akten-Id: 8/S. 1 VA). Anschließend wurde sie bis 04.03.2015 stationär in den A Kliniken behandelt (Akten-Id: 17/S. 1 VA), wo - zusätzlich zu den vom D-Arzt diagnostizierten Gesundheitsstörungen - auch eine „Commotio cerebri WAD I°“ diagnostiziert wurde. Im Anschluss daran klagte sie über eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik im Musculus trapezius, vornehmlich links mit Parästhesien des linken Armes (s. u.a. Akten-Id: 62/S. 1 VA, Akten-Id: 64/S. 1 VA).
Am 09.03.2015 stellte sich die Klägerin notfallmäßig mit Kopfschmerzen, Cephalgie, Cervikalgie und Nackenmyogelose in der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie, Frührehabilitation und Schlafmedizin des Klinikums C vor (Akten-Id: 99/S. 1 ff. VA). Ihr wurde eine medikamentöse und physikalische Behandlung empfohlen. Auch vom 22.05.2015 bis 08.06.2015 befand sie sich dort in ambulanter Behandlung (Akten-Id: 134/S. 2 f. VA). Es wurde u.a. eine Anpassungsstörung, eine nichtorganische Insomnie und ein Überdehnungstrauma der HWS anlässlich des Unfalls vom 02.03.2015 diagnostiziert und die Durchführung einer medizinischen Rehabilitation sowie einer ambulanten Psychotherapie zur Verarbeitung und Modifizierung des Schmerzerlebens empfohlen.
Im weiteren Verlauf kam es zu einer Belastungserprobung, die jedoch wegen anhaltender Schmerzen im Bereich der HWS und Lendenwirbelsäule (LWS) im Mai 2015 abgebrochen werden musste (s. Akten-Id: 72/S. 2 VA).
Auf Empfehlung des Ärztlichen Direktors der Abteilung für berufsgenossenschaftliche Rehabilitation und Heilverfahrenssteuerung der Bklinik T (BGU) S1 anlässlich einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 16.06.2015 (Akten-Id: 73/S. 1 ff. VA) befand sie sich vom 23.06.2016 bis 15.07.2015 zur Durchführung einer Komplex-stationären Rehabilitation (KSR) in der BGU (Akten-Id: 111/S. 1 ff. VA). Während dieser KSR wurde die Klägerin von dem S2 am 02.07.2015 untersucht (Akten-Id: 88/S. 1 ff. VA). S2 konnte auf neurologischem Fachgebiet keine krankhaften Auffälligkeiten, insbesondere keine Hinweise für eine Armnervengeflechtsschädigung objektivieren und sah auch auf psychiatrischem Fachgebiet keine Hinweise auf eine krankhafte Unfallfehlverarbeitung. Allerdings ergab ein am 08.07.2015 durchgeführtes psychosomatisches Konsil den dringenden Verdacht auf das Bestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit somatoformer chronischer Schmerzstörung ...