Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. möglicher sexueller Missbrauch in der Kindheit. Fehlen eigener Erinnerungen. keine Beweiserleichterung nach § 15 KOVVfG. Belastbarkeit von Erinnerungen nach langjähriger Traumatherapie
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG kommt nicht zum Tragen, wenn das Opfer keine Angaben aus eigenem Wissen machen kann, sondern nur über eine Lebensbeichte davon erfahren haben will.
2. Wenn erste eigene Erinnerungen erst nach 17 Jahren Traumatherapie zutage gefördert werden (hier mit non-verbalen Methoden), so ist besonders zu prüfen, ob es sich um authentische Erinnerungen handelt.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. März 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung, Opfer schädigender Ereignisse in Form von sexuellem Missbrauch zwischen 1966 und 1978 geworden zu sein und infolgedessen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bzw. einer rezidivierenden depressiven Störung und schädlichem Gebrauch von Benzodiazepinen zu leiden.
Die am ... Januar 1962 geborene Klägerin zog im Alter von 16 Jahren aus dem Elternhaus aus, wo sie bis dahin mit zwei älteren und einem jüngeren Bruder aufgewachsen war. Sie machte den Hauptschulabschluss, danach zunächst eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, später zur Wochenpflegerin, Arzthelferin und Krankenschwester. Im Jahr 1980 heiratete sie und bekam drei Kinder, geboren 1981, 1984 und 1988. Sie war erwerbstätig als Arzthelferin, als Nachtwache im Krankenhaus, als Kinderpflegerin und als sozialpädagogische Familienhelferin. 1985 kollabierte sie während eines Nachtdienstes, litt anschließend unter Schlafstörungen, Kraftlosigkeit, Appetitstörungen und machte eine Kur in Bad S. wegen psychovegetativer Erschöpfungszustände und damals fraglicher depressiver Episode. 1992 führte sie eine Mutter-Kind-Kur in C. wegen starker Erschöpfung durch, ob eine depressive Episode vorlag, ist nicht unbekannt (GA Dr. F. Bl. 68 SG-Akte). Sie machte zahlreiche Fortbildungen: Im März 2004 bildete sie sich im Selbststudium zur beratenden Kinderpsychologin (nicht anerkannt) fort, im selben Jahr besuchte sie den Fachtag Dokumentation und Beobachtung in der offenen Kita-Arbeit, 2007 den Fachtag Suchtprobleme am Arbeitsplatz, wurde Betriebshelferin für Erste Hilfe, nahm an einer Veranstaltung zum Thema: „riskante Kinderwelten brauchen Schutz“ teil, am Fachtag Suchtprävention, am G.-V. Kinder und Jugendliche in der Schule, 2008 am Fachtag frühe Hilfen im O. sowie an der Fortbildung: „Risikoverhalten in der Pubertät“.
Im Jahr 2006 wurde die Ehe geschieden. Von 2008 bis 2013 führte die Klägerin eine Klage vor dem Amtsgericht H. (AG) wegen nachehelichen Ehegattenunterhalts, in dessen Verlauf sie zwecks Feststellung des Umfangs ihrer Erwerbsfähigkeit mehrfach u. a. von PD Dr. F. (aufgrund der partiellen Amnesie könne die Art der Traumatisierung diagnostisch nicht erfasst werden, es spräche mehr gegen die Diagnose einer PTBS) begutachtet wurde. Seit 1. Februar 2009 bezieht sie unbefristet Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (Bescheid Bl. 62 VV), zwischenzeitlich auch eine bis 2015 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung (Entlassbericht Bl. 137 Senatsakte). In seinem Gutachten für die D. R. vom 28. April 2009 stellte der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. die Diagnosen einer PTBS nach Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, eines psychophysischen Erschöpfungszustands und einer reaktiven Depression. Über die ersten 16 Jahre ihres Lebens habe die Klägerin keine Erinnerung, was sie berichte, habe sie von Angehörigen erfahren. Im Alter von drei Jahren habe sie wohl an einer Enzephalitis und Meningitis gelitten, Unterlagen gebe es in der Kinderklinik in G. nicht mehr. Anschließend seien regelmäßig Elektroenzephalogramme (EEGs) abgeleitet worden und sie habe bis etwa zum 15. Lebensjahr Mylepsinum einnehmen müssen. Ihr sei berichtet worden, sie habe von 1968 bis 1977 die Grund- und Hauptschule in D. besucht. Man habe ihr berichtet, sie habe keine Klassenarbeiten mitschreiben dürfen, da sie sich nicht aufregen oder freuen dürfe.
Nach der Geburt ihres Sohnes K. 1984 sei sie Anfang 1985 während eines Nachtdienstes zusammengebrochen. Sie sei zur Kur nach Bad S. gekommen. Darüber gebe es keine Unterlagen. Nach der Schwangerschaft mit ihrer Tochter 1988 habe sie ein „normales“ Leben gelebt. Bis 1994 sei sie psychisch relativ stabil gewesen, sie habe „funktioniert“. Im Rahmen einer schweren Erkrankung ihres Sohnes K. - schwere Operation mit protrahiertem Verlauf nach Platzen eines Meckel‚schen Divertikels - sei der Verdacht entstanden, die Heilung des Sohnes verzögere sich oder werde unmöglich durch ihre eigenen Ängste. Daraufhin sei sie zu Dr. T. in Psychotherapie gegangen. Im Dezember 1995 sei ihr Vater gestorben und habe ihr zuvor am Sterbebett eröffnet, sie sei vo...