Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Leistungsantrag. Vollständigkeit. Verzinsung. zweiter Widerspruchsbescheid. Rechtswidrigkeit. Verfahrensgegenstand
Leitsatz (amtlich)
1. Ein vollständiger Leistungsantrag im Sinne des § 44 Abs 2 Halbs 1 SGB 1 liegt erst dann vor, wenn der zuständige Leistungsträger durch ihn in die Lage versetzt wird, den geltend gemachten Anspruch nach Grund und Höhe zu überprüfen. In der Regel sind dabei die vom Leistungsträger herausgegebenen Antragsvordrucke zu verwenden.
2. Die Verzinsung nach § 44 Abs 2 Halbs 2 SGB 1 setzt denknotwendig eine Entscheidung über den Leistungsanspruch voraus, weil es sonst bereits an einem verzinsbaren Kapital fehlt.
3. Der Verzinsungsbeginn bei (rechtswidrigen) ablehnenden Entscheidungen ist nicht gesetzlich geregelt.
4. Ein während des Klageverfahrens ergehender zweiter Widerspruchsbescheid in derselben Angelegenheit wird gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens. Ein solcher Widerspruchsbescheid ist rechtswidrig und aufzuheben, weil das Widerspruchsverfahren mit Erlass des ersten Widerspruchsbescheides abgeschlossen war und damit prozessrechtlich Kompetenz und Zuständigkeit der Widerspruchsstelle endeten (Anschluss an BSG vom 14.12.1994 - 4 RLw 4/93 = BSGE 75, 241 = SozR 3-5850 § 1 Nr 1).
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 14. Januar 2011 abgeändert und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 5. September 2008 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Verzinsung einer Rentennachzahlung.
Der im 1945 geborene Kläger beantragte am 29. November 2005 formlos Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Die Beklagte übersandte dem Kläger mit Schreiben vom 13. Dezember 2005 den förmlichen Vordruck für den Rentenantrag “R 100„. Nachdem der Kläger sich trotz Erinnerung vom 23. Januar 2006 nicht gemeldet hatte, lehnte die Beklagte den Antrag auf Zahlung der Rente unter Berufung auf § 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) mit Bescheid vom 6. März 2006 ab, da das Rentenantragsformular nicht eingesandt worden sei. Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2006) und Klage vor dem Sozialgericht Reutlingen ≪SG≫ (Urteil vom 10. Juli 2007 - S 11 R 2304/06 -) blieben erfolglos. Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht ≪LSG≫ Baden-Württemberg (L 11 R 4254/07) erklärten die Beteiligten im Rahmen eines Erörterungstermins vom 16. Oktober 2007 das Verfahren übereinstimmend für erledigt, nachdem der Kläger der Beklagten kurz zuvor, nämlich am 28. September 2007, den Vordruck “R 100„ für den Rentenantrag übersandt hatte. Die Beklagte führte weitere Ermittlungen u.a. für den Zeitraum vor Vollendung des 17. Lebensjahres des Klägers, den Monat Juli 1972 und die Monate April 1980 bis Juli 1980 durch, ließ sich die Personenstandsdaten des Klägers und seines Sohnes bestätigen und bewilligte mit Bescheid vom 13. Februar 2008 auf den Antrag vom 29. November 2005 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit rückwirkend ab dem 1. September 2005. Für den Zeitraum vom 1. September 2005 bis 29. Februar 2008 errechnete sie einen Rentennachzahlungsanspruch in Höhe von 31.232,52 €. Eine Verzinsung wurde abgelehnt, weil seit Eingang des vollständigen Leistungsantrags keine sechs Kalendermonate vergangen seien. Der Nachzahlungsbetrag wurde noch im Februar 2008 an den Kläger überwiesen.
Der Kläger erhob Widerspruch und machte u.a. die Verzinsung der Rentennachzahlung geltend. Es habe dem Grunde nach ein Anspruch auf die am 26. November 2005 formlos beantragte Altersrente bestanden. Mit dem ablehnenden Rentenbescheid vom 6. März 2006 sei ohne zwingende Notwendigkeit und Grund die Zahlung der Rente abgelehnt worden. Nach § 44 Abs. 2, 2. Halbsatz des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) werde damit die Verzinsung begründet, zumindest soweit die Ansprüche aus dem Versicherungsverlauf unstrittig gewesen seien.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 2008 und (offenbar weil in dieser Entscheidung die Widerspruchsbegründung des Klägers nicht beachtet worden war) erneut mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2008 als unbegründet zurück. Nach § 44 Abs. 2 SGB I beginne die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrages beim zuständigen Leistungsträger. Der Formantrag sei erst am 28. September 2007 eingegangen, so dass die im Februar 2008 überwiesene Nachzahlung nicht habe verzinst werden müssen.
Bereits am 31. Juli 2008 hatte der Kläger Klage zum SG erhoben. Mit Gerichtsbescheid vom 14. Januar 2011 hat das SG - nach vorheriger Abtrennung weiterer Verfahrensgegenstände - die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Verzinsungsanspruch bezüglich der Rentennachzahlung. Die Verzinsung beginne frühestens sechs Monate nach Eingang des vollständigen Leistungsantrages. Wenn das Gesetz von eine...