Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. kein Gerichtsbescheid bei Abweichung von der Rechtsauffassung des Obergerichts. Zurückverweisung nach § 131 Abs 5 SGG grundsätzlich durch Urteil. keine generelle Zurückverweisung an die Verwaltung. Zurückverweisung erst bei eklatantem Ermittlungsdefizit im konkreten Einzelfall. systematische Verletzung der behördlichen Amtsermittlungspflicht aufgrund ungenügender Ausstattung kein ausreichender Grund. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Rehabilitations-Entlassungsbericht als Gutachtenersatz. Arztbericht statt Gutachten für bestimmte sozialmedizinische Feststellungen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelung in § 131 Abs 5 SGG ist als Ausnahmeregelung eng auszulegen. Sie greift erst dann, wenn die im konkreten Fall an die Aufklärung des Sachverhalts zu stellenden Mindestanforderungen unterschritten werden (Fortführung von LSG Chemnitz vom 15.12.2011 - L 3 AS 619/10 = juris RdNr 21; LSG Stuttgart vom 21.10.2015 - L 5 R 4256/13 = juris RdNr 39).
2. In Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts kann die Behörde den Anforderungen der Amtsermittlung in geeigneten Fällen bereits dadurch genügen, dass sie die behandelnden Ärzte des Antragstellers anhört und diese der Behörde unter Berücksichtigung der weiteren vorliegenden medizinischen Unterlagen ein schlüssiges und überzeugendes Bild von den Funktionsbeeinträchtigungen des Antragstellers vermitteln.
3. Eine in wesentlichen und entscheidungserheblichen Punkten von der herrschenden Meinung oder vom Obergericht abweichende Rechtsauffassung erfordert regelmäßig einen besonderen rechtlichen Begründungsaufwand, welcher der Annahme eines Falles ohne besondere rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 105 Abs 1 SGG grundsätzlich entgegensteht.
Orientierungssatz
1. Eine Zurückverweisungsentscheidung nach § 131 Abs 5 SGG dürfte grundsätzlich durch Urteil zu treffen sein, da die hierzu erforderliche umfassende Abwägung mit den Interessen der Beteiligten regelmäßig einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid entgegensteht (vgl LSG Stuttgart vom 21.10.2015 - L 5 R 4256/13).
2. Erst für den Fall eines eklatanten Ermittlungsdefizits oder Ausfalls seitens der Verwaltung ist ggf der Weg über die Zurückverweisung nach § 131 Abs 5 SGG zu wählen (Kröner/Westermeyer, SGb 2020, 204, 209).
3. Eine pauschale Bewertung, welche den zu berücksichtigenden Interessen der Beteiligten im jeweiligen konkreten Einzelfall nicht ausreichend Rechnung trägt, kann im Hinblick auf die Zurückverweisung an die Verwaltung nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen.
4. Eine Zurückverweisung an die Verwaltung ist dann nicht angezeigt, wenn die erforderlichen weiteren Ermittlungen offenkundig die Kapazitäten der Behörde überschreiten - selbst wenn dies nur deshalb der Fall ist, weil die Behörde nicht mit ausreichenden personellen und sachlichen Mitteln ausgestattet worden ist.
5. Ein Sozialgericht, welches von der Behörde kein Gutachten zu den Funktionsbeeinträchtigungen des Betroffenen erhält und deshalb zutreffend weiteren Ermittlungsbedarf annimmt, muss anstelle einer Zurückverweisung an die (überlastete) Verwaltung ggf die Absolvierung eines weiteren Rehabilitationsverfahrens des Klägers abwarten, da Entlassungsberichte aus Rehabilitationsmaßnahmen als Erkenntnisgrundlage oftmals einem Gutachten gleichkommen.
6. Die genaue Erhebung der Bewegungsmaße für die Beurteilung der Bewegungseinschränkungen nach Teil B Nr 18 der in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) und die Objektivierung der damit verbundenen Beschwerden müssen nicht von einem Gutachter ermittelt werden. Vielmehr können diese grundlegenden Feststellungen vom behandelnden Orthopäden erwartet werden, der hierzu ausgebildet und in der Lage ist.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15.01.2020 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 streitig.
Die im Jahr 1980 geborene Klägerin stellte erstmals am 06.02.2017 einen Antrag nach § 69 SGB IX. Das Landratsamt K. (LRA) zog einen Befundbericht des Orthopäden M. bei und setzte mit Bescheid vom 25.09.2017 nach Einholung einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme von Dr. K. vom 14.09.2017 den GdB auf 20 fest. Hierbei wurden ein chronisches Schmerzsyndrom sowie ein Fibromyalgiesyndrom als Funktionsstörungen berücksichtigt.
Am 28.08.2018 beantragte die Klägerin die Neubewertung des GdB und gab an, dass sie bei Dr. St., PD Dr. W. und Dr. T. wegen einer Fibromyalgie und einer Arthrose in Behandlung sei.
Das LRA forderte mit Schreiben vom 28.09.2018 eine klinische Befundbeschreibung über die ihm bekannten Gesundheitsstörungen mit Art und Ausmaß der durch sie verursachten Funktionsbeeinträchtigungen ohne Diagnoseaufzählung, ohne gutachterliche Äußerung und Untersuchung, bei dem Fa...