Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. strafrechtliche Rehabilitierung. DDR-Unrechtshaft. posttraumatische Belastungsstörung. ursächlicher Zusammenhang. Trauma-Kriterium. Brückensymptome. Vermeidungsverhalten. Hypersensitivität. Anpassungsstörung. bestandskräftig abgelehnte Bescheinigung nach § 10 Abs 4 HHG. sozialgerichtliches Verfahren. Bezeugung von medizinischen Tatsachen nur durch Mediziner. Ungeeignetheit sonstiger Zeugenaussagen. Bindung an den Klageantrag. Antragsüberschreitung. Berufungszurückweisungsantrag

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Feststellung medizinischer Umstände, seien es Symptome, seien es gar Krankheiten im diagnostischen Sinne, ist nur ein Arzt oder ein sonstiger medizinisch ausgebildeter Behandler ein geeigneter Zeuge, nur er hat die dafür notwendige besondere Sachkunde im Sinne von § 414 ZPO und wird daher als sachverständiger Zeuge vernommen. Dagegen können Zeugenaussagen, jedenfalls die Aussagen solcher Zeugen, die nicht berufen sind, medizinische Sachverhalte zu beurteilen, nicht als ein geeignetes Beweismittel für die Feststellung medizinischer Tatbestände angesehen werden und sind deshalb vom Zeugenbeweis insoweit ausgeschlossen.

2. Der Senat bleibt bei seiner Rspr, dass es, um eine PTBS auslösen zu können, über das Trauma einer zu Unrecht erlittenen Haft weiterer dramatischer Ereignisse bedarf, die über die normalen Haftbedingungen hinausgehen, ansonsten kommen andere psychische Erkrankungen in Betracht.

3. Eine Krankheit, die eine eigene Codierung nach der ICD-10 oder einem anderen Diagnose- und Klassifizierungssystem hat, ist etwas anderes als eine andere Krankheit, also ein "aliud". Ein Gericht darf insoweit nicht etwas anderes zusprechen als beantragt ist.

 

Orientierungssatz

1. Zum Leitsatz 1 vgl BSG vom 28.4.1960 - 5 RKn 12/58 und vom 28.11.1967 - 11 RA 152/67 = SozEntsch BSG 6 § 36 Nr 22.

2. Zum Leitsatz 2 vgl LSG Stuttgart vom 12.8.2014 - L 6 VH 5821/10 ZVW; abweichend hierzu LSG Berlin-Potsdam vom 28.1.2016 - L 11 VU 37/14.

3. Der Senat hat bereits entschieden, dass weder nach der ICD-10 (juris: ICD-10-GM) noch nach dem DSM-IV das Vorliegen von Brückensymptomen zu fordern ist (Festhaltung an LSG Stuttgart vom 12.8.2014 - L 6 VH 5821/10 ZVW; vgl auch BSG vom 2.12.2010 - B 9 VH 3/09 B = MEDSACH 2013, 87).

4. Zum Vermeidungsverhalten (C-Kriterium) und Hypersensitivität (D-Kriterium) bei der Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach DSM-VI-TR 309.81 (hier verneint).

5. Zum Vorliegen einer Anpassungsstörung nach F43.8 der ICD-10 (hier verneint).

6. Eine bestandskräftige Ablehnung der Bescheinigung nach § 10 Abs 4 HHG sperrt nicht den Weg eines Geschädigten in das StrRehaG.

7. Es kann offenbleiben, ob das BSG mit seinem Urteil vom 23.4.2015 - B 5 RE 23/14 R = BSGE 118, 294 = SozR 4-2600 § 2 Nr 20 im Hinblick auf die Frage, ob der Kläger sich mit einem Berufungszurückweisungsantrag eine Antragsüberschreitung des erstinstanzlichen Urteils zu eigen macht, generell von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl BGH vom 6.10.1998 - XI ZR 313/97 = NJW 1999, 61) und der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes abweichen wollte.

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 10. Oktober 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 10. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten beider Instanzen sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Berufungen der Klägerin und des Beklagten (Anschlussberufung) betreffen ein Verfahren über die Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen und über die Gewährung einer Beschädigtenrente wegen einer Inhaftierung in der früheren Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Die Klägerin ist im Jahre 1953 in der ehemaligen DDR im Bezirk K.-M.-Stadt (Chemnitz) geboren und dort aufgewachsen. Sie heiratete 1972 und gebar 1974 einen Sohn. Sie war bis 1987 als Fachverkäuferin in der Metzgerei ihres Ehemannes berufstätig. Am 9. Februar 1987 wurden sie und ihr Ehemann verhaftet. Am 1. Juli 1987 verurteilte das Bezirksgericht K.-M.-Stadt Mitte-Nord die Klägerin zu 1 Jahr und 8 Monaten und den Ehemann zu 2 Jahren und 10 Monaten Freiheitsentzug sowie Geldstrafen (...). Der Verurteilung lagen gemeinschaftliche Verstöße gegen das Devisen- und das Zollgesetz der DDR zu Grunde, bei dem Ehemann der Klägerin zusätzlich die Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts. Die Eheleute waren vom 9. Februar bis zum 12. November 1987 in der Untersuchungshaftanstalt (UHA) K.-M.-Stadt des Ministeriums für Staatssicherheit und in der Justizvollzugsanstalt (JVA) H. inhaftiert. Die Klägerin musste nach ihren späteren Angaben während der Haftzeit stundenlange Verhöre und körperliche Untersuchungen erdulden, sie wusste nichts über den Verbleib ihres Sohnes, hatte keinen Kontakt zu ihren Angehörigen, auch die Ernährung war mangelhaft und die Nachtruhe gestört. Eine Gefängnisrevolte von kriminellen Häftlingen, an ...

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