Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankengeld. Auszahlung auf der Grundlage sog Auszahlscheine. rückwirkende Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit. Beschäftigungsverhältnis. Ähnlich geartete Tätigkeit. Entlassungsbericht über eine stationäre Rehabilitation. Treu und Glauben. Meldung der Arbeitsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Zahlt eine Krankenkasse dem Versicherten Krankengeld auf der Grundlage sog Auszahlscheine, mit denen der Arzt das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit rückwirkend bescheinigt, kann sie nach dem Grundsatz von Treu und Glauben im Klageverfahren nicht einwenden, der Versicherte habe sich die Arbeitsunfähigkeit nicht rechtzeitig ärztlich bestätigen lassen.
Normenkette
SGB V § 44 Abs. 1, § 46 S. 1, § 48 Abs. 1 S. 1, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 7, § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 192 Abs. 1 Nrn. 2-3, § 16 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 09.12.2009 und der Bescheid der Beklagten vom 15.10.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.02.2009 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 17.07.2008 bis 15.08.2008 und vom 20.08.2008 bis 03.09.2008 Krankengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Krankengeld (Krg) im Zeitraum vom 17.07.2008 bis 03.09.2008.
Der 1967 geborene, bei der Beklagten versicherte Kläger arbeitete seit 2001 als Papierschneider in der Produktion einer Druckerei. Seine Tätigkeit war mit dem Heben und Tragen schwerer Lasten sowie Arbeiten mit den Armen über Brustniveau verbunden. Er hatte pro Schicht zwischen 20 und 25 Tonnen Papier zu bewegen.
Ab dem 20.04.2007 war der Kläger wegen eines Impingementsyndroms und einer Läsion der Rotatorenmanschette links arbeitsunfähig krank. Nach dem Ende der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber bezog er ab dem 30.05.2007 Krg von der Beklagten. Die Bewilligung des Krg beruhte bis zum 20.06.2007 auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, mit denen dem Kläger vom Zeitpunkt der ärztlichen Untersuchung für einen zukünftigen Zeitraum Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde. Danach wurden dem Kläger von der Beklagten sog “Auszahlscheine für Krg„ übergeben, auf denen der Arzt das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit für die Vergangenheit bestätigte. Der Kläger musste auf dem Auszahlschein Angaben darüber machen, ob er gearbeitet hat oder nicht und ob er eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält bzw beantragt hat. Diese Angaben musste er mit Datum und Unterschrift bestätigen und den Auszahlschein bei der Beklagten einreichen. Anschließend erhielt er dann Krg für die Zeit bis zu dem Tag, an dem er sich beim Arzt vorgestellt hatte.
Am 18.12.2007 kündigte der Arbeitgeber dem Kläger aus gesundheitlichen Gründen. Nach einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung einigte sich der Kläger mit seinem Arbeitgeber auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 29.02.2008.
Vom 18.06.2008 bis 16.07.2008 absolvierte der Kläger zulasten der Deutschen Rentenversicherung eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der orthopädischen Abteilung der Z.-Klinik, St. B.. Der Kläger bezog während dieser Zeit Übergangsgeld. Im Entlassungsbericht vom 21.07.2008 werden die Diagnosen HWS-Syndrom, Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Stimmung (gemischt), LWS-Syndrom, Impingementsyndrom links und rezividierende habituelle Luxation der Patella links genannt. Aus orthopädischer Sicht sei die Wiederaufnahme der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Papierverarbeiter nicht möglich. Tätigkeiten mit Heben und Tragen von schweren Lasten sowie Zwangshaltungen der Wirbelsäule seien nicht möglich. Tätigkeiten unter stark schwankenden Temperaturen, in Nässe und Zugluft, mit Erschütterungen und Vibrationen sowie Tätigkeiten unter erhöhter Unfallgefahr sollten nicht verlangt werden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei der Kläger für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten sechs Stunden täglich und mehr arbeitsfähig. Der Kläger werde mit seinem Einverständnis arbeitsfähig entlassen. Aus psychotherapeutischer Sicht habe der Kläger bei der Entlassung einen psychisch belastbaren und leistungsfähigen Eindruck gemacht. Der Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung werde empfohlen.
Die Internistin des Klägers, Dr. G., stellte zuletzt Auszahlscheine für Krg am 02.05.2008, 09.06.2008, 03.07.2008 und 05.08.2008 aus.
Am 16.08.2008 reiste der Kläger nach Bosnien. Nach seinen Angaben verweilte er dort mit seinem Bruder drei oder vier Tage, um sich in einer Klinik untersuchen zu lassen.
Mit Schreiben vom 25.08.2008 forderte die Beklagte Dr. G. auf, die Gründe für die weitere Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen, nachdem der Kläger als arbeitsfähig aus der Rehabilitationsklinik entlassen worden sei. Dr. G. teilte daraufhin mit, dass ihr bislang der Entlassungsbericht nicht vorliege. Deshalb liege ihr kein Hinw...