Leitsatz (amtlich)

1. Formvorschriften (hier bzgl. Beitrittserklärung zur freiwilligen Versicherung in der KV) dürfen im Interesse der Rechtssicherheit nicht aus bloßen Billigkeitserwägungen außer Acht gelassen werden. Ausnahmen sind nach der Rechtsprechung anerkannt und zulässig, wenn es nach den Beziehungen der Parteien und den gesamten Umständen mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, das Rechtsgeschäft am Formmangel scheitern zu lassen.

2. Dies gilt für Fälle einer besonders schweren Treuepflichtverletzung eines Beteiligten. Eine besonders schwere Treuepflichtverletzung kommt regelmäßig dann in Betracht, wenn eine Partei in schwerwiegender Weise gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen hat (vorliegend bejaht).

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 05.10.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten sind Beiträge zur freiwilligen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2018 nebst Säumniszuschlägen streitig.

Der 1975 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland und war bei der Techniker Krankenkasse (TK) vom 01.10.1998 bis 06.08.2001 sowie vom 15.10.2001 bis 31.03.2003 in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert und in der Zwischenzeit (07.08.2001 bis 24.10.2001) freiwillig versichert (Bl. 67 der Senatsakten). Er reiste aus der Bundesrepublik Deutschland kommend am 25.02.2008 in die Schweiz ein (Bl. 13 der SG-Akten) und war dort bis zum 31.03.2018 beschäftigt. Er war in der Schweiz vom 01.01.2013 bis zum 31.03.2018 für den Fall der Krankheit/Mutterschaft bei der A1 in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (zuletzt mit einer Jahresprämie von 2.856,00 Schweizer Franken) versichert (Bl. 26 der Verwaltungsakten; Bescheinigung über die Zusammenrechnung der Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Wohnzeiten E104, Bl. 106 der Verwaltungsakten). Der Kläger kündigte im März 2019 diese Versicherung rückwirkend zum 31.03.2018. Die A1 bestätigte die Kündigung (Schreiben vom 21.09.2019, Bl. 23 der SG-Akten) und erstattet ihm die zunächst entrichteten Beiträge für April 2018 bis Juni 2019 (Bl. 24 der SG-Akten).

Am 01.04.2018 nahm der Kläger, der bis November 2019 weiterhin seinen Wohnsitz in der Schweiz hatte, eine Beschäftigung bei der B1 GmbH in S2 auf. Die Arbeitgeberin meldete den Kläger am 27.04.2018 als „nicht krankenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer/Übergrenzer/Selbstzahler“ an (vgl. Bl. 113 der Verwaltungsakten; Bl. 57 der Senatsakten). Vereinbart und gezahlt wurde ein Entgelt über der Jahresarbeitsentgeltgrenze. Die Arbeitgeberin erbrachte an den Kläger Beitragszuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. Bl. 155, 158, 160 der Verwaltungsakten).

Am 06.04.2018 unterzeichnete der Kläger eine Mitgliedschaftserklärung bei den Beklagten beginnend ab dem 01.04.2018 (Bl. 15 der SG-Akten). Er gab an, sich bis unmittelbar vor Mitgliedschaftsbeginn im Ausland aufgehalten zu haben. Er sei bis heute in der Schweiz krankenversichert. Die Beklagten erstellten daraufhin eine Mitgliedsbescheinigung für „Arbeitgeber“ (ohne Konkretisierung durch Name oder Anschrift) mit der Aufforderung, den Antragsteller bei Tätigkeitsbeginn zu melden (Bl. 49 der Verwaltungsakten).

Eine weitere Mitgliedschaftserklärung unterschrieb der Kläger am 11.04.2018 (Bl. 25, 50 der Verwaltungsakten). Hierin gab er u.a. an, vor seinem Auslandsaufenthalt zuletzt in Deutschland bei der TK krankenversichert gewesen zu sein.

Unter dem 13.04.2018 bestätigten die Beklagten zwar die Mitgliedschaft, als Anschrift des Klägers war jedoch die Anschrift der Beklagten in S3 angegeben (Bl. 47 der Verwaltungsakten). Außerdem erstellten die Beklagten eine Mitgliedsbescheinigung, adressiert an die B1 GmbH und teilten mit, die Mitgliedschaft beginne am 01.04.2018, wenn die Voraussetzungen erfüllt seien (Bl. 48 der Verwaltungsakten).

Mit Bescheid vom 12.11.2018 (Bl. 27, 44 der Verwaltungsakten; Bl. 9 der SG-Akte) - gerichtet an den Kläger, adressiert an die Anschrift seines Vaters in K1 - teilten die Beklagten dem Kläger mit, dass dieser ab dem 01.04.2018 als freiwilliges Mitglied versichert sei und dass sich der monatliche Beitrag für die Kranken- und Pflegeversicherung auf insgesamt 814,20 € beliefe. Für den Zeitraum vom 01.04.2018 bis 31.10.2018 seien für die Krankenversicherung noch 4.832,10 € und für die Pflegeversicherung 867,30 € offen, insgesamt also 5.699,40 €. Dem Kläger wurde der Bescheid durch seinen Vater ausgehändigt.

Mit Schreiben vom 13.11.2018, wiederum an die Anschrift des Vaters des Klägers adressiert, bat die Beklagte zu 1 um Einreichung eines Fotos für die Erstellung einer elektronischen Gesundheitskarte (Bl. 28 der Verwaltungsakten).

Gegen den Bescheid vom 12.11.2018 erhob der Kläger am 06.12.2018 Widerspruch (Bl. 29 der Verwaltungsakten), mit dem er eine rechtsverbindliche Mitteilung s...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge