Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. operative Eingriffe bei Transsexualismus. Anspruch auf deutliche anatomische Annäherung an das andere Geschlecht durch operativen Brustaufbau. kein Anspruch auf Brustvergrößerung
Leitsatz (amtlich)
1. Transsexualismus ist jedenfalls derzeit weiterhin als psychische Regelwidrigkeit und nicht als bloße Normvariante anzusehen. Aufgrund ihrer weiterhin gegebenen Sonderstellung bei Vorliegen in krankheitswerter Form kann diese psychische Regelwidrigkeit grundsätzlich auch operative Eingriffe in den gesunden Körper rechtfertigen.
2. Liegt die Indikation für operative Maßnahmen aufgrund von Transsexualismus vor, besteht Anspruch auf eine deutliche anatomische Annäherung an das andere Geschlecht. Dieser Anspruch geht bei Transsexuellen Mann-zu-Frau über die Schaffung der Voraussetzungen des - derzeit nicht unmittelbar anwendbaren - § 8 Abs 1 Nr 4 TSG hinaus und kann auch einen Anspruch auf operativen Brustaufbau bei fehlender Anlage, jedoch nicht einen Anspruch auf Brustvergrößerung begründen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.01.2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für eine Brustvergrößerung.
Die Klägerin wurde 1964 anatomisch männlich geboren. Aufgrund der Diagnose Transsexualismus Mann-zu-Frau wurde im Februar 2008 nach vorheriger Östrogentherapie eine geschlechtsangleichende Operation durchgeführt. Die Kosten dafür wurden von der Beklagten übernommen, nachdem die Voraussetzungen hierfür im sozialmedizinischen Gutachten vom 08.01.2008 (Dr. M.-J.) als erfüllt angesehen worden waren. Dort heißt es u.a., die Kostenübernahme-Empfehlung beziehe sich auf den Aufbau einer Neo-Vagina, nicht etwa auf den zusätzlichen weiteren Eingriff einer operativen Brustaugmentation.
Am 31.03.2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine Brustvergrößerung und legte ein Schreiben des behandelnden Gynäkologen vom 24.03.2008 (Dr. H.) vor. Dieser führte aus, seit der 2005 erfolgten Zufuhr von Östrogenhormonen habe sich eine mäßige seitengleiche weibliche Brust entwickelt. Durch eine Steigerung der Östrogenzufuhr könne kein weiteres Brustwachstum erreicht werden, weshalb eine operative Brustvergrößerung indiziert sei, um den geschlechtsangleichenden Eingriff zu vervollständigen.
Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK ein, der mit sozialmedizinischem Gutachten vom 08.04.2008 (Dr. M.-J.) die Voraussetzungen für die Übernahme der begehrten Maßnahme als nicht gegeben ansah, da sie nach der Entwicklung einer mäßigen, aber seitengleichen weiblichen Brust nicht medizinisch indiziert sei.
Mit Bescheid vom 14.04.2008 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme ab. Da sich laut Schreiben des behandelnden Arztes eine mäßige, aber seitengleiche Brust entwickelt habe, läge ein krankhafter Befund nicht vor.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 23.04.2008 Widerspruch ein. Am 20.06.2008 übersandte die Klägerin ein Schreiben der Dres. O. und Sch. vom 26.05.2008, in dem diese anführen, dass sich bei ihr nur ein minimales Brustwachstum zeige, was immer noch einer männlichen Brust entspräche. Aus ärztlicher Sicht sei die medizinische Indikation für eine Mammaaugmentation gegeben. Diese Operation werde in ihrer Belegklinik unter stationären Bedingungen bei einem Aufenthalt von 3 bis 4 Tagen durchgeführt. Zu Veranschaulichung fügte die Klägerin noch Fotodokumentationen bei.
In dem weiteren von der Beklagten eingeholten Gutachten des Medizinischen Dienstes vom 01.07.2008 wurde eine Kostenübernahme nicht befürwortet (Dr. M.). Es handele sich vorliegend um eine Mammahypoplasie (Unterentwicklung der Brust), die an sich nicht als krankhafter Befund zu werten sei. Der kosmetische Aspekt stünde im Mittelpunkt, weshalb es sich um einen kosmetischen Eingriff handele. Eventuell käme bei Selbstwertproblemen eine Psychotherapie in Betracht. Die Klägerin führte daraufhin aus, erst mit der Brustvergrößerung sei die Geschlechtsangleichung abgeschlossen, da die Brust zu den maßgeblichen weiblichen Geschlechtsmerkmalen gehöre. So würde sie sich gefangen fühlen halb als Mann und halb als Frau und Depressionen bekommen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und begründete dies damit, Transsexualität sei eine Krankheit im medizinischen Sinne und im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung, die bei entsprechender medizinischer Indikation die Leistungspflicht der Krankenkasse für geschlechtsumwandelnde Mittel und Maßnahmen auslöse. Dabei werde zwischen genitalangleichenden Eingriffen, also solchen, die an den primären Geschlechtsmerkmalen stattfänden und weiteren Eingriffen, die die sekundären Geschlechtsmerkmale beträfen, unterschieden. Die weibliche Brust gehöre zu den sekundä...